»Spasiba!« bedankte sie sich und benutzte damit das einzige russische Idiom, das sie bisher gelernt hatte. Wohingegen ich halbherzig versuchte, meine eigenen Sprachkenntnisse damit frisch zu halten, daß ich mit mir selbst Russisch rede, aber ich fürchte, es wird Rost ansetzen, wenn ich weiterhin in dieser fachlichen Vorhölle bleibe. Schon seltsam, wie schnell man an Höhe verliert.
»Bitteschön!« sagt Birgitte und stellt Cappuccino und Rüblitorte vor mich hin.
»Das ist ganz lieb von dir«, sage ich, »aber ich esse keinen Kuchen!«
»Ach, scheiß auf die Kalorien!« sagt sie locker.
»Das sind nicht nur die Kalorien!« entgegne ich und mache meine Beine breit, um besser Platz für den Bauch zu haben. Ich habe zuviel zugenommen. Vierzehn Kilo. Zwölf wären auch genug gewesen. Das ist dieser ganze Müßiggang.
»Bekommst du Sodbrennen?« fragt sie, und ich nicke verwundert. »Weißt du eigentlich alles?«
»Alles! Deshalb hör gut zu und halte dich dran!«
Ich schütte Rohrzucker in den Kaffee, schlürfe den Milchschaum und sage nichts. Unsere Freundschaft ist ziemlich zerbrechlich, seit sie Jens getroffen hat, und ernsthaft gefährdet, nachdem sie Maxi bekommen hat, der jedenfalls inzwischen halbtags schwarz bei einer Tagesmutter untergebracht ist. Ich habe ziemliche Schwierigkeiten damit, daß sie sich so verändert hat. Daß sie sich zuerst von der Ehe und dann von der Mutterschaft so hat aussaugen lassen. Ich hatte eine größere Kapazität bei ihr erwartet, eine größere Fähigkeit, sie selbst zu bleiben. Ja, ihr spezielles kreatives Talent zu entfalten, das alle anderen außer ihr selbst so schätzen. Und dann ist es mir peinlich, daß sie sich rein physisch so hat gehenlassen. Nicht, daß sie gebaut ist, als könnte sie eine von Tom Wolfes krankhaften »X-rays« sein, aber warum sie üppig wie eine Revuesängerin erscheinen muß, begreife ich nicht.
Birgitte war jedoch seit der Pubertät die engste Beziehung, die ich hatte, meine Rettungsleine zu anderen Menschen. Und auch nach Pauls Erscheinen weiß ich sehr genau, daß ich es mir nicht leisten kann, sie zu verlieren. Deshalb passe ich auf sie und uns auf und schlucke meinen sarkastischen Kommentar runter, den ich bereits auf den Lippen habe, als sie erst ihr eigenes und dann mein Stück Rüblitorte in sich hineinschaufelt. Aber Birgitte mit ihrer visuellen Begabung und ihrer Fähigkeit, mich zu durchschauen, läßt plötzlich die Kuchengabel sinken.
»Weightwatcher!« stößt sie aus. »Hör auf, mich so anzusehen!«
»Warst du nicht auf Diät?« weiche ich aus.
»Doch! Und gerade deshalb bin ich ja so hungrig!« lacht sie. »Warte nur, bis du auch mit Schlankheits-Pulver und Fieberpillen anfängst. Das ist überhaupt nicht witzig!«
»Soweit ich weiß, ist es überhaupt nicht besonders witzig, ein Kind zu kriegen!« bemerke ich säuerlich.
»Nein, dann hast du mich eben mißverstanden!« ruft sie abwehrend aus. »Ein Kind in die Welt zu setzen, ist das Tollste, was man überhaupt tun kann. Aber danach wirst du niemals wieder dieselbe sein!«
Ich zucke mit den Achseln. Was soll ich dazu sagen? Nein! Doch! Ich weiß nicht?
Kurz danach huscht sie davon – sie muß Maxi bei der Tagesmutter abholen – und fragt mich, ob ich bis Nørreport mit will. Aber ich möchte lieber noch ein bißchen allein hier sitzen, noch eine Tasse Kaffee trinken und drücke fest ihre Hand zum Abschied.
»Heute nacht ist Vollmond, dann geht es bestimmt bald los!« sagt sie. »Ruf mich an, wenn das Fruchtwasser abgeht!«
Das verspreche ich, auch wenn es mir inzwischen unwahrscheinlich vorkommt, daß ich jemals so weit kommen werde. Das Gefühl, das ich heute habe, unterscheidet sich nicht von dem, das ich an den anderen Tagen hatte, an denen ich wirklich glaubte, daß es jetzt losgehen würde.
Mir gelingt es, eine Mulattenkellnerin im Minirock dazu zu bewegen, mir nachzuschenken, zünde mir die eine Zigarette an, die meine heimlich festgesetzte Tagesration ausmacht, und greife in meine Kaufhausplastiktüte nach dem »Spiegel«, den ich in deren gut sortiertem Kiosk auf dem Weg hierher gekauft habe. Die Titelstory der Zeitschrift handelt vom Rohstoff- und Waffenschmuggel aus der Ex-UdSSR und bestätigt meine eigene These über alle Maßen: Mittels aufgeputzter Kaufleute der Mafia, zu denen auch mein Freund Sascha gehört, verkaufen korrupte Offiziere alles aus den alten Lagern, so daß es nur eine Frage der Zeit ist, wann jeder Mullah, jede Terroristenzelle oder jede Partisaneneinheit daheim in der Garage die eigene Atomwaffe zusammenbasteln kann. Äußerst bedrohlich, und mit jeder Zeile werde ich von neuem Feuereifer erfaßt. Denen muß Einhalt geboten werden! Jemand muß etwas tun, und deshalb muß ich die Geschichte fertigkriegen! Als ich die Zeitschrift umblättere, entdecke ich, daß der Lederjackentyp mich anstarrt. Er lächelt ungeniert und prostet mir mit seiner Tasse zu. Er sieht mit dem zurückgekämmten Haar, seinem Zopf und dem kunterbunten Bandana um den Hals aus wie ein Pirat. Ich hebe meine Tasse und erwidere den Gruß, senke aber gleich wieder meinen Blick und versuche, meine zuvor so engagierte Lektüre auf deutsch fortzusetzen: In Moskau wird eingeräumt, die Kontrolle über die Atomsprengköpfe sei während der Zeit des Machtwechsels in den GUS-Republiken für einige Monate verlorengegangen ... Aber die Worte flimmern im Bewußtsein dessen, daß der Pirat mich unverwandt anstarrt. Ich schiele über die Zeitschriftenkante zu ihm hinüber. Kenne ich ihn? Habe ich mit ihm in einer meiner wilden Phantasien gebumst? Bin ich mit ihm zur Schule gegangen? Habe ich ihn in einer Kneipe verärgert?
Er steht auf, wie ich feststelle, und ich spüre gleichzeitig, daß mein Herz bei dem Wissen, daß er auf dem Weg zu mir ist, heftig pocht. Aber ich schaue erst auf, als er an meinem Tisch steht und mich anspricht.
»Du«, sagt er. »Darf ich dich was fragen?«
»Ja« antworte ich entgegenkommend, aber kurz angebunden, und erfasse in einem kurzen Augenblick das, was ich wissen will. Breit gebaut, nicht besonders groß. Dunkle Augen und ein Schönheitsfleck ungefähr dort, wo Robert de Niro seinen hat. Ich habe den Typen noch nie gesehen.
»Du hast wohl einen Vater zu dem Kind, oder?«
Ich lächle spontan.
»Und wie!«
Er nickt und legt eine Hand auf den Cafétisch. Sie ist kräftig und sonnenverbrannt, mit Silberringen mit eingefaßten Türkisen auf mehreren der breiten Finger.
»Denn sonst«, hebt er an und stockt dann, als hätte er plötzlich den Mut verloren.
»Sonst?« ermuntere ich ihn mit schräg geneigtem Kopf.
»Sonst würde ich dich mit auf See nehmen! In die Südsee!«
»Was für ein Angebot!« stoße ich lachend aus. Er ist wirklich ein Pirat!
»Ich heuere in drei Tagen auf einem Schiff nach Tahiti an. Du kannst mich hier morgen zur gleichen Zeit finden, wenn du es dir anders überlegst.«
»Das werde ich sicher nicht«, sage ich.
»Man kann nie wissen«, sagt er, streift meine Hand mit einem Finger, wünscht mir »viel Glück« und dreht mir den Rücken zu, als er sich hinausbewegt. Er hat einen Hängearsch in der Hose, und an seinem rechten Stiefel fehlt der Absatz.
Ich muß mich einen Moment lang fassen. Die Südsee! Ich habe Seeleute und Segler noch nie verstanden. Noch nie den Drang verstanden, auf allen Seiten Wasser um sich haben zu wollen. Vielleicht hatte ich immer schon zu viel Angst vor der Tiefe. Obwohl wir ja gerade daher kommen. Aus dem Wasser. Wie mein kleiner Fisch, an den ich jetzt wie an einen nassen Delphin denke, in seinem eigenen Ozean tauchend. Einen Augenblick lang verliere ich mich in meiner Sehnsucht, das Wasser vom Rücken des Delphins abstreifen zu können. Ich gebe weitere Fachlektüre auf und leere meine Kaffeetasse. Lege die Zeitschrift zurück in die Plastiktüte, wo mir die Einkäufe aus der Babyabteilung ins Auge fallen. So handfest und dennoch so fern. Ich sollte lieber zusehen, daß ich nach Hause komme. Statistisch gesehen steigt das Risiko, daß die Geburt