Und ich konnte studieren. Für meinen Unterhalt wollte ich selbst aufkommen und fand einen Job im Wiener Verlagshaus der niederösterreichischen Zeitungen. Monatslohn 90 Schilling. Aber wo wohnen?
Auf dem Stephansplatz war nicht nur der Dom ausgebrannt, sondern auch viele der ihn umgebenden Häuser. Eine der ausgebrannten Fassaden hatte man mit einem Holzverschlag abgedeckt. Diesen Verschlag nutzten viele Menschen, um sich mit anderen Menschen zu verständigen. Auf kleine Zettel, die sie auf dem Holzverschlag befestigten, schrieben sie ihre Wünsche und Angebote. Dorthin ging ich und hoffte, dass auch irgendjemand ein Untermietzimmer anzubieten hatte. Als ich ankam, war eine ältere Dame gerade dabei, das zu tun. Sie bot einen Raum ihrer Zweizimmerwohnung zur Miete an. Ich sprach sie an und sie war bereit, mir dieses Zimmer um 30 Schilling pro Monat zu vermieten. Heute scheint das lächerlich billig gewesen zu sein, aber ich musste, wie viele Studenten, mit weniger als 100 Schilling im Monat durchkommen. Für die Miete, für die Monatskarte der Straßenbahn, für eine Mahlzeit täglich in der Studentenmensa. Und da sollten noch einige Schillinge übrig bleiben für Theater oder Kino.
Dann kam der Winter 1945/46, besonders kalt. Ich hockte in meinem kleinen, ungeheizten Untermietzimmer im fünften Bezirk, britische Zone. In der Wohnung gab es ein Radio und ich wurde eingeladen, die angekündigte Weihnachtsansprache des Bundeskanzlers Leopold Figl mitzuhören. Ich habe sie später auch in die Dokumentation »Österreich II« aufgenommen. Aber ich denke, ich sollte sie auch in diesem Buch wiedergeben. Denn sie sagt mehr über den damaligen Zustand des Landes und seiner Menschen aus, als ich hier beschreiben könnte: »Ich kann euch zu Weihnachten nichts geben. Ich kann euch für den Christbaum, wenn ihr überhaupt einen habt, keine Kerzen geben. Kein Stück Brot, keine Kohle zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden. Wir haben nichts. Ich kann euch nur bitten: Glaubt an dieses Österreich!«
Ich weiß nicht mehr, wann und wo mir die Abbildung einer Zeichnung in die Hände fiel, die Oskar Kokoschka genau um diese Zeit in seinem Londoner Exil veröffentlicht hat. Der Titel: »Im Gedenken an die Kinder Europas, die diese Weihnachten an Kälte und Hunger werden sterben müssen.« Fast genau so stand es im Bericht, den die Nahrungshilfsorganisation der UNO, UNRRA, zur Lage in Österreich publizierte: »Österreich ist das Land, in dem die Menschen dem Hungertod am nächsten sind.«
Die wöchentliche Lebensmittelration für Erwachsene in der Wiener britischen Zone bestand aus 15 Dekagramm Haferflocken, 10 Dekagramm Zucker und einem halben Laib Brot. Später gab es ab und zu zusätzlich eine Konservendose mit unterschiedlichem Inhalt.
Doch es wurde auch geholfen. In der Schweiz lief eine große Aktion an: »Kartoffeln für die hungernden Wiener«. Tausende Schweizer spendeten Geld für diese Kartoffelhilfe. Hunderte Schweizer Familien erklärten sich bereit, Wiener Kinder für längere Zeit aufzunehmen und durchzufüttern. Der New Yorker Bürgermeister Fiorello LaGuardia kam nach Wien und ließ sich vom amerikanischen Hochkommissar die täglichen Lebensmittelrationen eines Wieners in natura vorführen. Er stand ehrenhalber der UNRRA vor, und die begann nun, Österreich in ihr Hilfsprogramm aufzunehmen.
Zur großen Wende, nicht nur für Österreich, sondern für ganz Westeuropa, kam es erst, als 1947 die Marshallplanhilfe der USA anlief.
Wie ein Rettungsanker Was der Marshallplan bewegte
An Figls Weihnachtsrede kann man ermessen, was für die Menschen die Nachricht bedeutete, der amerikanische Außenminister George Marshall habe angekündigt, die Vereinigten Staaten seien zu einer großen Hilfsaktion bereit, um ganz Europa bei der Überwindung von Hunger, Not und Kriegszerstörung zu helfen. Alle europäischen Staaten seien eingeladen, an diesem Hilfsprogramm teilzunehmen. Offiziell European Recovery Program (ERP) genannt, aber bekannt wurde es als Marshallplan.
Eine großartige Idee: Alle europäischen Staaten sollten gemeinsam eine Organisation zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit gründen, in der die wirtschaftlichen und finanziellen Bedürfnisse jedes einzelnen Landes zu erfassen seien. Die USA würden die benötigten Güter – Fabriksausrüstungen aller Art, Transportmittel, landwirtschaftliche Maschinen, Lebensmittel – und auch Geld kostenlos zur Verfügung stellen. Geliefert würden sie an die jeweiligen Regierungen. Diese sollten die Güter den Unternehmen und Menschen im eigenen Land zuteilen und die sollten sie für den Wiederaufbau verwenden – die Traktoren in der Landwirtschaft, die Maschinen in den Fabriken, die Turbinen in den Kraftwerken, die Waggons für die Eisenbahnen und so weiter und so fort.
Die Empfänger aber sollten diese Güter bezahlen, das Geld dafür sollte ihnen in Form langfristiger Kredite zu niedrigen Zinsen von den Regierungen zur Verfügung gestellt werden. Bezahlt würde praktisch also erst dann, wenn mit diesen Gütern bereits Geld verdient werden konnte. Das Geld, das für diese Kredite zurückfließen würde, sollte in einen eigenen Fonds fließen, der nach dem amerikanischen Hilfsprogramm zu benennen sei: ERP-Fonds. Die in diese ERP-Fonds fließenden Gelder, in nationaler Währung, sollten die Regierungen erneut als Kredite zur weiteren Unterstützung der Wirtschaft verleihen – langfristig und zu niedrigen Zinsen. Also eine sich stets erneuernde Kreditmaschine. Die USA verzichteten auf jede Bezahlung, alle Güter aus dem Marshallplan waren geschenkt.
Eine selbstlose Spende also der Amerikaner? Nicht so selbstlos. Die Vereinigten Staaten verfolgten mit dem Plan zwei Ziele: Eine Abwehrstrategie gegenüber der Sowjetunion – Westeuropa dürfe nicht auch noch kommunistisch werden und damit für die USA strategisch und auch wirtschaftlich verloren gehen. Der Plan aber würde gleichzeitig auch der amerikanischen Wirtschaft helfen, sich von der Kriegs- auf Friedenswirtschaft umzustellen. Denn das für den Marshallplan aufgewendete Geld der amerikanischen Steuerzahler würde ja fast zur Gänze im Land bleiben, die nach Europa zu liefernden Güter würden in den USA erzeugt und hier bezahlt werden. Für Amerika eine Win-win-Position.
Es ist gut, sich an diesen Mechanismus zu erinnern. Denn bei verschiedenen Krisensituationen in Europa taucht immer wieder der Gedanke auf, den in Not geratenen Ländern mit einer Art Marshallplan zu Hilfe zu kommen. Doch die Krisenländer in Europa brauchen in erster Linie Geld und keine Güter. Aber die finanzielle Hilfe so zu konstruieren, dass sie wie der Marshallplan beiden Seiten Nutzen bringt, den Gebern und den Nehmern, das ist eine gründliche Überlegung wert.
Auch lag dem Marshallplan eine noch viel weitergehende Idee zugrunde. Die teilnehmenden Staaten hatten sich ja in einer gemeinsamen Organisation zusammengefunden, die auch schon einen Namen trug: OEEC, die englische Abkürzung für »Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit«. In dieser Organisation wurden die Teilnehmerstaaten zur Zusammenarbeit verpflichtet, die Volkswirtschaften miteinander koordiniert und aufeinander abgestimmt. Heute kann man mit Fug und Recht sagen, dass die OEEC schon der Grundstein war für die spätere Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und daher auch für die Europäische Union.
Die Regierungen aller beitrittswilligen Staaten wurden nun eingeladen, an einer von Großbritannien und Frankreich einberufenen Konferenz in Paris teilzunehmen und dort ihren Beitritt zum Marshallplan zu vollziehen. Ganz Europa war eingeladen, auch die Sowjetunion und alle Länder Ost- und Südosteuropas. Die neutralen Länder Schweiz und Schweden meldeten von sich aus ebenfalls ihre Teilnahme am Marshallplan an. Der sowjetische Außenminister Molotow kam nach Paris mit nicht weniger als 86 Experten und Beratern. So war man überzeugt, dass das Programm ganz Europa umfassen würde. Aber Molotow machte die Teilnahme der Sowjetunion von Bedingungen abhängig.
Die amerikanische Regierung hatte das Hilfsprogramm an zwei Voraussetzungen geknüpft. Die erste schon erwähnte: Alle Teilnehmer müssten sich in der OEEC zur gegenseitigen Wirtschaftshilfe zusammenfinden. Die zweite schien den in Paris versammelten Regierungsvertretern durchaus logisch und akzeptabel: Die Verteilung der Güter und der Gelder des ERP müsste unter amerikanischer Aufsicht stehen. Damit sollte vermieden werden, dass Güter und Gelder auf dem Schwarzen Markt landen, aber auch sichergestellt werden, dass die Regierungen die ERP-Gelder tatsächlich für die Ankurbelung der Wirtschaft und