Zu dieser Katastrophe konnte mein Vater in der »Preßburger Zeitung« nicht mehr Stellung nehmen. Er war zwar deren Chefredakteur, nicht aber ihr Eigentümer. Eigentümer war jene Gruppe von Verlegern, zu denen auch das angesehene »Prager Tagblatt«, das »Brünner Tagblatt« und die Mährisch-Ostrauer »Morgenpost« zählten. Die Verleger waren jüdisch. Diese Zeitungen wurden über Nacht enteignet, mein Vater als Chefredakteur der »Preßburger Zeitung« abgesetzt und das Erscheinen der Zeitung eingestellt.
Ich weiß nicht, ob es noch am gleichen oder erst am nächsten Tag war, jedenfalls erschienen einige Männer in ziviler Kleidung in unserer Wohnung und führten eine Hausdurchsuchung durch. Ich sehe noch die aufgerissenen Schubladen und Kastentüren vor mir und wie die Männer Kleider und Wäsche auf den Boden warfen. Mein Vater war nicht zu Hause, er kam erst Stunden später aus der Redaktion zurück, in der er sich von seinen Mitarbeitern verabschiedet hatte. Drei der zwölf Redakteure waren Juden, zwei von ihnen, Löwy und Bauer, flohen noch am selben Tag und schafften es später nach Palästina – das allerdings erfuhren wir erst nach dem Krieg, als sie uns Briefe aus Israel schickten. Der Dritte, Donath, schaffte es nicht und wurde später in einem der Vernichtungslager ermordet.
Aber die »Preßburger Zeitung« erschien dann doch noch einmal »unter neuer Leitung«. Mit folgender Erklärung: »Unter dem Druck der großen Umwälzung, die in den letzten Tagen vor sich gegangen ist, musste aus technischen Gründen vorübergehend das Erscheinen der ›Preßburger Zeitung‹ eingestellt werden. Nun hat der Verlag unter der neuen Leitung beschlossen, dieselbe wieder erscheinen zu lassen. Allerdings nicht mehr wie bisher wird die jüdische ›Intelligenz‹ das Blatt gestalten und Gift in das Volk träufeln, sondern nationalsozialistischer Gestaltungswille und nationalsozialistisches Gedankengut wird die Zeitung zum Instrument des Großdeutschen Reiches machen … Preßburger! Freiheit und Friede ist angebrochen, die neue Leitung grüßt Euch mit dem Gruß, der dem deutschen Volke heilig ist: ›Heil Hitler!‹ K.L.«
Trotz »neuer Leitung« und »Heil Hitler« erschien die »Preßburger Zeitung« nur noch wenige Wochen, dann wurde sie zugunsten des nationalsozialistischen »Grenzboten« eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt besuchte ich die zweite Klasse des einzigen deutschsprachigen Gymnasiums in Preßburg. Die Aufregung unter den Schülerinnen und Schülern war groß. Als staatliches Gymnasium der gestern noch existierenden tschechoslowakischen Republik war es eine liberale und demokratisch geführte Schule. Mädchen und Buben in derselben Klasse, katholische, protestantische und jüdische Kinder. Daheim hatten sich wohl die Eltern schon die Frage gestellt, wie lange das noch so bleiben werde. Es blieb noch bis zum Schulschluss im Juni dieses Jahres 1939. Als ich im Herbst in die nächste Klasse kam, gab es keine jüdischen Mitschüler mehr. Dies wurde uns vom Direktor der Schule, der den Namen Meznik trug, persönlich mitgeteilt. Mit »tiefem Bedauern«, wie er ausdrücklich betonte. Die jüdischen Mitschüler würden von nun an in »andere Schulen« gehen. Was sie zunächst auch tun konnten. Zumindest ein slowakisches oder ungarisches Gymnasium konnte, durfte sie noch aufnehmen. Von unseren Lehrern, die, wie es österreichisch Brauch war, von uns als Herr und Frau Professor angesprochen wurden, gaben sich nur zwei als Nationalsozialisten zu erkennen, obwohl es diese Partei als solche in Preßburg nicht gab. Die »national Gesinnten« sammelten sich in der sogenannten »Karpatendeutschen Partei«, einer Schwesterpartei der »Sudetendeutschen Partei«, die schon längere Zeit unter der Führung Konrad Henleins auf den Anschluss an Deutschland hinarbeitete. Es gab drei deutsche Jugendvereine in Preßburg, den »Deutschen Turnverein«, die »St. Georgs Pfadfinder« und den »Wandervogel«. Ich ging zum Schwimmunterricht in den »Turnverein«. Jetzt wurden die Pfadfinder aufgelöst, der »Wandervogel« und der »Turnverein« der neu gegründeten »Deutschen Jugend« eingegliedert, die dann immer mehr der Hitlerjugend angeglichen wurde.
Um zunächst bei der Schule zu bleiben. Der Lehrplan und die Schulbücher dieser deutschsprachigen Schule folgten noch viele Jahre nach dem Ersten Weltkrieg den österreichisch-ungarischen Schulplänen. Das blieb auch jetzt noch eine Weile so, bis dann die Lehrbücher durch solche aus Deutschland ersetzt wurden. Auch der liberale Direktor Meznik wurde von einem Österreicher namens Olbricht abgelöst, einem Verwandten des Erbauers der Wiener Secession. Unter dieser Direktion mussten die Professoren mit »Heil Hitler« grüßen und am Anfang und am Ende des Schuljahrs hatten die Schüler aller Klassen auf dem großen Sportplatz der Schule zu einer Art Appell anzutreten, bei dem der Direktor eine Rede hielt.
Im Unterricht jedoch war vom Nazismus nur wenig zu spüren. Lediglich der Biologieprofessor verwandelte die Mendelsche Erbfolgelehre in eine Rassenlehre. Seine Frau, die Musikprofessorin, brachte uns keine Nazilieder bei. Olbricht hingegen, der Kunst unterrichtete, ließ uns deutsche Flugzeuge zeichnen, die Bomben auf England warfen.
Daheim hörten wir regelmäßig die Nachrichten des Schweizer Senders Beromünster und die deutschen Nachrichten der BBC. Interessanterweise wurde da in der Familie nicht getan, als wäre das verboten und müsste geheim gehalten werden. Ich nehme an, dass es ein solches Verbot auch in der Slowakei gab, andererseits hörte man englische BBC-Nachrichten im Sommer auch manchmal aus offenen Fenstern in den Straßen. Zuhause waren diese Nachrichten immer Gegenstand der Diskussion und des Vergleichs mit den Nachrichten des Reichssenders Wien. Der Unterschied war meist groß. Recht engagiert erzählte ich davon immer wieder den Mitschülern. Auch einmal im Umkleideraum des Turnsaals. Olbricht hörte da offenbar mit und stellte mich nach der Turnstunde zur Rede: Ich möge das künftig nicht mehr tun, das sei nicht in Ordnung und in der Schule verboten. Mehr aber nicht. Er fragte nicht, woher ich diese Nachrichten hatte.
Es wurde schwerer, sich dem Druck der »Deutschen Jugend« zu entziehen. Zwei meiner Freunde entfremdeten sich mir, weil sie Führer in dieser DJ geworden waren, was ihre Interessen und Ansichten prägte und ihnen kaum noch Zeit für freundschaftliche Begegnungen ließ. So suchte ich mir neue Freunde. Die waren leidenschaftliche Tarockspieler und hatten mit der DJ nichts am Hut. Wir hatten es bald heraus, wie man das Tarockspielen auch den eigenen Eltern gegenüber vertreten konnte. Wir nahmen uns vor und hielten das auch ein, täglich nach Unterrichtsschluss gemeinsam unsere Hausaufgaben zu erledigen und in der Schule problemlos weiterzukommen. So durften wir auch am Abend abwechselnd bei dem einen oder anderen Freund daheim Karten spielen, auch wenn es dabei etwas später wurde. Auch ins Kino gingen wir oft, und in Preßburg wurden nicht nur die deutschen, sondern auch italienische und französische Filme mit Untertiteln gezeigt. Danielle Darrieux und Maurice Chevalier waren uns so bekannt wie Magda Schneider und Paul Hörbiger.
Mein Vater war nun arbeitslos, aber nicht ohne Freunde. Einige von diesen behielten ihre Posten, auch in der neuen Tiso-Slowakei. Wie sich überhaupt ein Netzwerk bildete von Menschen, die die Zerschlagung der Tschechoslowakei betrauerten und die die immer stärker werdende Einflussnahme der von Deutschland in die Slowakei entsandten »Berater« und Aufpasser empörte. Es war eine merkwürdige Mischung von Zusammenhalt und Überlebenskunst.
Und so geschlossen, wie das nach außen hin schien, war auch das politische Lager rund um den Staatspräsidenten Tiso nicht. Dieser war der Führer der slowakischen »Volkspartei«. Ihn und seine Partei kann man nur erklären, wenn man sich kurz mit der Geschichte der Slowaken vertraut macht. 800 Jahre lang gehörte die Slowakei zu Ungarn, Oberungarn genannt. Und die königlichen Ungarn gingen nicht sanft um mit den Völkern, die sie beherrschten. So war es den Slowaken nicht erlaubt, eine Mittelschule zu besuchen, ohne ihren slowakischen Familiennamen abzulegen, einen ungarischen anzunehmen und sich zum Magyarentum zu bekennen. Ein höheres Studium für Slowaken gab es nur im Rahmen einer Ausbildung zum Priester. Ganz im Gegensatz zu den österreichisch regierten Tschechen, denen alle Schulen und auch die Prager Universität offen standen. Aber das erklärt auch, warum die nationalistischen Führer der Slowaken Priester waren – Andrej Hlinka und Jozef Tiso, beide waren Prälaten.
Innerhalb dieses nationalen Lagers bestanden zwei ideologische Richtungen, die anti-ungarische und die sich langsam herausbildende anti-tschechische. Tiso war noch von der tschechoslowakischen Regierung zum Ministerpräsidenten der Teilrepublik Slowakei ernannt worden. Das war noch nicht der eigene Staat. Zu diesem wurde er erst gedrängt durch Baldur von Schirach und Seyß-Inquart im Auftrag