Zukunft verpasst?. Thomas Middelhoff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Middelhoff
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783863348311
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      Jedem, der schon einmal Monopoly gespielt hat, ist eines deutlich: Man kann dieses Spiel nicht mehr gewinnen, wenn einer der Mitspieler die wenigen wichtigen Straßenzüge beherrscht. Die Miete, die fällig wird, wenn man zum Beispiel auf der mit Hotels bebauten Schlossallee landet, ist exorbitant. Deren Eigentümer hatten zu Beginn des Spiels nicht nur den Mut, diese Liegenschaften zu hohen Preisen zu kaufen, sondern haben diese anschließend unter Einsatz hoher Cash-Beträge durch den Bau von Hotels entwickelt. Und dank der starken Marktstellung kann der Eigentümer nun Nutzungsgebühren in exorbitanter Höhe aufrufen.

      Ähnlich wie bei den absoluten Toplagen beim Monopoly gibt es im Internet nur wenige Top-Plattformen, die den Zugang zum Endkunden kontrollieren. In diesem Sinne hat das Internet trotz seiner dezentralen Architektur eine Tendenz zur Monopolisierung (Beispiel Amazon). Konzerne wie Amazon, Facebook, Alibaba, Google, Netflix, PayPal oder Tencent besitzen die digitalen Endkunden-Kontakte und zwar weltweit. Nicht ein einziges deutsches Unternehmen spielt in dieser Liga heute noch eine Rolle. Selbst das deutsche Aushängeschild Zalando kennt in den USA und China kaum jemand.

      Die deutschen Unternehmen haben den eigenen und direkten Zugang zu den Endkunden im verlorenen Jahrzehnt verspielt. Die Konsequenz dieses sträflichen Versäumnisses besteht darin, dass die Gatekeeper jederzeit die Preise und Konditionen verändern können, zu denen sie den Zugang zu „ihren“ Kunden gewähren. Die aktuellen rechtlichen Auseinandersetzungen zwischen Google und deutschen Medienunternehmen sind hierfür nur ein Beispiel.

      Statt an den zukünftigen Wert der „Schlossallee“ zu glauben, haben sich deutsche Konzerne Anfang 2000 mit dem „Süd- oder Westbahnhof“ begnügt und fanden das damals in ihrer Naivität auch noch „très chique“. Allenfalls haben sich durch diese Vorgehensweise kurzfristig höhere Gewinne erzielen lassen. Aber selbst das stellen wir aufgrund unserer Beobachtungen infrage. Vielmehr wurden die handelnden Manager auf diese Weise zu Totengräbern ihrer eigenen Firmen, wie wir in den nachfolgenden Kapiteln zeigen werden.

      Um bei der Monopoly-Analogie zu bleiben: Für die deutschen und europäischen Unternehmen sind in der digitalen Welt die billigen, aber wenig lukrativen „Bahnhöfe“ geblieben. Auch wenn sie jetzt mehrfach über „Los“ gehen, um ein wenig Cash zu generieren, können sie den Ausgang des Spiels nicht mehr zu ihren Gunsten verändern. Und wenn sie in dieser Spielphase die Ereigniskarte „Gehe ins Gefängnis“ ziehen, wird sie das für einen kurzen Zeitraum sogar freuen, entgehen sie so doch der Gefahr, sehr schnell wieder auf der mit Hotels bebauten Schlossallee zu landen.

      Der vorhersehbare Ausgang des Spiels und die heutige Situation vieler deutscher Konzerne lässt sich mehr wirtschaftlich ausgedrückt wie folgt beschreiben: Viel mehr Alternativen, als auf die Regulierung und Zerschlagung der chinesischen und amerikanischen Mitspieler durch die Kartellbehörden oder auf technologische Innovationen und damit verbunden neue Anwendungen zu hoffen, scheinen ihnen aus heutiger Sicht nicht zu bleiben. Dies ist nun wirklich keine komfortable Situation. Allerdings eine, in die sie sich durch eigenverantwortliches, aber fehlgeleitetes Handeln während des verlorenen Jahrzehnts selbst hineinmanövriert haben.

      Bei den meisten Strategieüberlegungen deutscher Konzerne um die Jahrtausendwende ging es vor allen Dingen darum, genau diese Gefahr abzuwenden. Man wollte nicht in der Situation enden, dass die Erreichung der Endkunden von Plattformen abhängig werden könnte, die von Dritten kontrolliert werden. So galt es beispielsweise bei Bertelsmann als strategisch unverzichtbar, den direkten Endkundenzugang zu sichern. Dieses Prinzip hatte bis Anfang 2000 Gültigkeit, insbesondere für digitale Plattformen, und war damals ein wichtiger Grund für die Kooperation mit Napster. Auch die New York Times ist dieser Strategie gefolgt, Anders als bei Bertelsmann haben allerdings ihre Gesellschafter die digitale Ausrichtung des gesamten Unternehmens bis heute gegen alle externen Widerstände beibehalten. Der heutige Erfolg der New York Times in der digitalen Welt, auch im Wettbewerb mit Google, ist der verdiente Erfolg dieser konsequenten Strategie und zugleich ein Lehrstück für alle deutschen Medienunternehmen.

      In dem alten Geschäftsansatz „Club“ verkaufte Bertelsmann die Buchinhalte direkt an Club-Mitglieder. Die Denkweise, die mit diesem Geschäftsmodell verbunden ist, lässt sich ohne weiteres auf die digitale Welt übertragen. Ebenso wie in der alten Buchclub-Welt zahlten die AOL-Mitglieder auch in der digitalen Welt eine feste Monatsgebühr für die Nutzung ihres Services. Nichts anderes als genau dieses Geschäftsmodell betreiben heute Anbieter wie DAZN oder Netflix.

      Ende März 2020 kommt beispielsweise Amazon Prime allein in Deutschland auf knapp 24 Millionen Mitglieder. Damit verfügt Amazon Prime in Deutschland nicht nur über einen größeren Mitgliederbestand als die Evangelische Kirche mit knapp 22 Millionen Mitgliedern, sondern ist auf diesem Wege an Bertelsmann vorbeigezogen, das vor noch 20 Jahren den Medienmarkt im Heimatland Deutschland beherrscht hatte.

      Faktisch ist heute leider aufgrund der Verhaltensweisen der verantwortlichen Personen während des verlorenen Jahrzehnts genau das eingetreten, was strategisch als unbedingt zu vermeiden galt: Die deutschen Konzerne im Business-to-Consumer-Geschäft sind abhängig geworden von Gatekeepern, die sich, aus anderen Ländern kommend, nicht nur weltweit einen dominanten Marktanteil sichern konnten, sondern auch auf dem deutschen Markt. In einzelnen Teilbereichen haben sie zwischenzeitlich fast eine Monopolstellung erreichen können.

      DEUTSCHLANDS VORZEIGEUNTERNEHMEN: VIER BEISPIELE DAFÜR, WIE MAN DEN ANSCHLUSS VERLIERT

      Nach dem oben beschriebenen „Phänomen der zeitlichen Entkopplung zwischen Ursache und Wirkung“ zeichnet sich erst heute in aller Deutlichkeit ab, ob Großkonzerne mit ihren internationalen Wettbewerbern Schritt halten können.

      Um diese Frage zu beantworten, ist es sinnvoll, die Überlegung anzustellen, wo wir heute stehen würden, wenn die Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik während des verlorenen Jahrzehnts sich anders verhalten hätten, wenn sie mit ausgewogenem Urteilsvermögen unterschieden hätten, was in der digitalen Welt gut und was auch problematisch oder schlecht ist. Wenn sie eben nicht zu Werke gegangen wären, als wollten sie die Geschehnisse von 1844 wiederholen. Damals verantworteten schlesische Weber den bis dahin ersten und bekanntesten Fall von „Maschinenstürmerei“ in Deutschland.

      Die deutschen Wirtschaftsführer haben den einfachen Weg gewählt und die kurzfristige Strategie der „Ergebnisoptimierung“ einer langfristig ausgerichteten und mühevollen Digitalstrategie vorgezogen. Hierbei herrschte im Management häufig der Gedanke vor, dass die Kosten einer solchen Strategie und ihre Erträge zeitlich zu weit auseinanderfallen. Da die Kosten die eigene Amtszeit belasten, die Erlöse aber in den Verantwortungszeitraum des Nachfolgers fallen würden, wurde in den allermeisten Fällen die Entscheidung getroffen, dass dieser doch bitte auch die Kosten tragen soll.

      Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem verlorenen Jahrzehnt für deutsche Vorzeigeunternehmen? Und sind diese Konsequenzen heute sichtbar, wenn man denn genauer hinsehen will?

      Wir konzentrieren uns auf deutsche Konzerne mit weltweitem Renommee, die 2000, zu Beginn des verlorenen Jahrzehnts, weltweit führend in ihren Märkten tätig waren. Wurden möglicherweise damals in verschiedenen Branchen ähnliche strategische Fehler gemacht? Und belasten diese die Unternehmen und ihre Aktionäre heute und noch stärker in der Zukunft: durch verpasste Chancen, durch fehlendes Wachstum, durch nur noch begrenzte Wettbewerbsfähigkeit oder durch Opportunitätskosten? War einer der wesentlichen Gründe für die verpassten Chancen dieser Konzerne in der digitalen Welt die Tatsache, dass viele deutsche Konzernführer das Internet als eine „Zwischenepisode“ verstehen wollten?

      Diesen Konzernen stellen wir die Strategie eines Wettbewerbers gegenüber, der während des verlorenen Jahrzehnts eine entgegengesetzte Strategie verfolgte: die Konzentration auf die konsequente Digitalisierung des Geschäftsmodells.

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