Zukunft verpasst?. Thomas Middelhoff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Middelhoff
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783863348311
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wurde. Heute hält er an der Tsinghua Vorlesungen in chinesischem Finanz- und Zivilrecht.

      Wir sind zutiefst beeindruckt von dem, was wir heute gesehen und erlebt haben, daran kann auch der Smog nichts ändern: das Tempo der Veränderung, die eindrucksvollen Bedingungen an den Universitäten, die Masse an hervorragend qualifizierten Studenten, der Ehrgeiz und der Wille, sich durchzusetzen, die enge Verzahnung zwischen Wissenschaft, Forschung, Inkubationszentren und Politik. Dass diese Entwicklung in einem Zeitraum von weniger als 15 Jahren möglich war, zeigt, dass auch Gesellschaften mit tausendjähriger Tradition und Kultur wandlungsfähig sein können.

      Wir haben das nicht zum ersten Mal erlebt: Auch unser Partner Professor Jiren Liu, der legendäre Gründer von Neusoft, dem größten chinesischen Softwareunternehmen, gründete drei eigene Universitäten in Dalian, Chengdu und Guangzho nach dem gleichen Muster wie die Tsinghua: enge Verzahnung zwischen Forschung, Lehre, Inkubatoren und Start-ups. Knapp 40.000 Studenten lernen, forschen, entwickeln und vor allen Dingen gründen an den Neusoft-Universitäten und sind so letztendlich eine verlängerte Werkbank des Unternehmens. Ein Ansatz, der in Deutschland undenkbar wäre.

      Uns alle bewegt eine Frage: Wie will Europa – und vor allen Dingen, wie kann Deutschland – in Zukunft mit dieser „Mega-Nation“ eigentlich noch mithalten? Ein Land, in dem allein die fünf größten Städte zusammen mehr Einwohner haben als Deutschland insgesamt. Städte, ausgestattet mit einer perfekten digitalen Infrastruktur, die man in deutschen Zentren in dieser Qualität vergeblich sucht! Andererseits verursacht das schnelle Wachstum ohne Frage Probleme in verschiedenen infrastrukturellen Bereichen wie zum Beispiel Energie, Luftverschmutzung oder innerstädtischer Verkehr.

      Zum Dinner ist unser Gesprächspartner wie zu allen seinen Terminen in der Stadt mit dem Fahrrad gekommen. Seinen Helm hat er auf einen Stuhl hinter sich gelegt, daneben die Atemmaske, die im Mundbereich dunkel eingefärbt ist.

      Er ist locker, witzig, intelligent und bescheiden, ja, fast demütig wirkt er auf uns. Aber wir spüren seinen entschlossenen Willen und seine Durchsetzungskraft. Kurz vor den ersten Trinksprüchen erfahren wir, dass er bereits für viele wichtige Deals auf chinesischer Seite verantwortlich zeichnete. Als er erwähnt, dass er für die chinesische Regierung die Übernahme von 10 Prozent an Blackstone, dem weltweit führenden amerikanischen Private Equity-Unternehmen, verhandelt hat, wird uns allen klar: All das, was wir an diesem Tag in Peking erlebt haben, im positiven wie auch im negativen Sinne, wäre in dieser Form in Deutschland völlig undenkbar.

      Vor allem deutsche Universitäten werden heute und noch viel mehr in der Zukunft nur begrenzte Chancen im Wettbewerb mit diesen chinesischen Elite-Universitäten haben. In China stehen Unternehmen und wohlhabende Alumni mit großen finanziellen Mitteln hinter den Hochschulen. Unsere chinesischen Gesprächspartner sind im Hinblick auf Offenheit, Fortschritt und Innovation deutlich weiter als der Durchschnitt der deutschen Universitätsprofessoren oder Politiker. Das Internet ist in China weiter verbreitet, es wird umfassender genutzt und vor allen Dingen ist es technisch besser ausgebaut. Zudem vollzieht sich die Digitalisierung in China mit einem deutlich höheren Momentum als bei uns.

      Bereits im Jahr 2015 hat die chinesische Regierung ein Programm verabschiedet, das China bis zum Jahr 2025 zur führenden digitalen Nation dieser Welt machen soll. China hat erkannt, dass seine Tech-Giganten bislang nur wenige internationale Erfolge aufweisen können. Dies soll – und wir sind uns sicher: es wird – sich in der Zukunft grundsätzlich ändern.

      Was bedeutet das für unser Land, das sich als Wiege der Dichter und Erfinder versteht, sich seiner Ingenieurskunst rühmt und in der Vergangenheit seine internationale Wettbewerbskraft mit seinem „besseren Bildungssystem“ begründet hat?

      Unser chinesischer Gast verabschiedet sich lächelnd mit der Bemerkung, in dem Pool dieses Hotels schwimme er jeden Morgen seine 500 Meter. Er winkt uns freundlich zu, nimmt seinen Fahrradhelm und die Atemmaske und verschwindet in die Dunkelheit. Wir blicken uns nachdenklich an.

      Wir bleiben noch einige Minuten am Ausgang des Hotels stehen. Uns geht beiden dieselbe Frage durch den Kopf, die wir uns fast zeitgleich stellen: „Haben wir in Deutschland den Anschluss verpasst? Wie wollen und wie können wir in Zukunft mit einem Land wie China noch mithalten?“

      Was wir in diesem Moment noch nicht wissen können: Die Antwort auf diese Frage wird in den kommenden Wochen in Europa und in Deutschland eine ganz neue, ungeahnte Dynamik bekommen. Nur wenige Tage nach unserer Abreise werden in Wuhan die ersten Infektionen mit Covid-19 öffentlich bekannt. Bei der Bewältigung dieser in ihrer weltweiten Dimension bislang nie gekannten Herausforderung für die Wirtschafts- und Arbeitswelt, das Gesundheitswesen und unsere soziale Interaktion werden wir in Deutschland lernen, in einem Ausmaß auf die Digitalisierung zu bauen, wie wir es vorher nie für möglich gehalten hätten.

      DAS VERLORENE JAHRZEHNT: UND WIEDER IST DIE ELITE NICHT SCHULD

      Alle verfügbaren Daten belegen, dass Deutschland vor allen Dingen in den Jahren 2000 bis 2010 den digitalen Anschluss an Länder wie die USA und China verpasst hat – ein Jahrzehnt, in dem Unternehmer, Manager, Investoren und Politiker im sprichwörtlichen Sinne glaubten, das Rad der technologischen Entwicklung wieder zurückdrehen zu können. Für diesen Sachverhalt haben wir bei der Erarbeitung dieses Buches den Begriff des „verlorenen Jahrzehnts“ geprägt.

      In diesem Zeitraum war man in den Managementetagen deutscher Unternehmen und Finanzdienstleister fest davon überzeugt, der Spuk der Digitalisierung sei vorbei und man könne zur altbewährten Tagesordnung zurückkehren. Vielfach hatten sich die führenden Köpfe in der deutschen Politik und Wirtschaft auch in ihrer persönlichen Bedeutung herausgefordert gefühlt, was, menschlich betrachtet, durchaus verständlich ist.

      Die plötzliche und dramatisch überzogene Wertentwicklung der Digital Economy an den Börsen, die neuen, bislang unbekannten Millionäre und Milliardäre, die öffentliche Aufmerksamkeit für die neuen Internetunternehmer, die wie Rockstars gefeiert wurden – all das forderte ohne Frage das Establishment heraus. Gegenreaktionen konnten nicht ausbleiben.

      In diesem verlorenen Jahrzehnt gingen führende Repräsentanten der deutschen Wirtschaft und damit der Old Economy nach unserem Eindruck eine kollektive Wette ein, deren Credo lautete: „Das Internet ist eine in seiner Bedeutung völlig überschätzte Modeerscheinung aus dem Silicon Valley. Geld verdienen kann man nur mit den bewährten Geschäftsmodellen der Old Economy mit echtem Cashflow.“

      Dies erklärt, warum viele Manager in dem Zeitraum von 2000 bis 2004 in Gesprächen mit uns außerordentlichen Wert auf die Feststellung legten, die sie möglichst in Hörweite anderer Personen in mahnenden Worten vortrugen: „Ich habe euch doch immer wieder gesagt, dass das Internet nicht so bedeutend sein wird, wie es von euch dargestellt wurde.“ Heute will sich allerdings keiner der damaligen Gesprächspartner mehr an diese Aussagen erinnern (lassen).

      Interessanterweise sind heute viele Kinder dieser Managergeneration mit digitalen Geschäftsmodellen in der Start-up-Szene aktiv, zum Teil erfolgreich, zum Teil mit finanzieller Unterstützung ihrer Väter.

      Auch wir haben in diesem Zeitraum Fehler gemacht und sind falschen Einschätzungen unterlegen. Und wir wissen auch nicht, ob wir es besser gemacht hätten als unsere Kollegen. Aber durch unsere frühen Investitionen in digitale Technologien hatten wir die Chance, zu lernen und die digitale Welt zu verstehen. Die zahlreichen und frühen Reisen ins Silicon Valley und andere Teile der Welt, die Investitionen in Start-ups und die Arbeit in deren Gremien haben dazu beigetragen, ein besseres Gefühl und Verständnis für digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln.

      Wir nehmen für uns in Anspruch, dass wir bis heute immer fest an die Bedeutung der Digitalisierung für die Bundesrepublik Deutschland geglaubt haben. Im Gegensatz zu vielen unserer Kollegen haben wir die Digitalisierung nicht mit missionarischem Eifer bekämpft. Conny hat beispielsweise bereits vor über 20 Jahren Vorträge vor Bankern gehalten, in denen er diese darauf hingewiesen hat, dass ihr herkömmliches Geschäftsmodell infolge der Digitalisierung in Zukunft keinen Bestand mehr haben würde. Häufig wurde dies belächelt oder in das Reich der Fabeln verwiesen. Fakt ist leider