Dort stand er. Mit dem Fleiß eines Forschungsreisenden zeichnete er die greuliche Maske des Mexiki in sein Notizbuch und hörte … von Plänen … Verschwörungen … Organisationen …
Hörte, bis das Flüstern erstarb … sah dann … und sah zwei Gesichter.
Seitdem kannte er Collin Cameron.
Das ferne Donnern einer zu Tal gehenden Lawine riß ihn aus seinen Träumen.
Mit einem Satz stand er auf beiden Beinen.
»Verdammt! Sagt ich’s nicht? … Lawinenwetter …«
Er schickte sich an, die Veranda zu verlassen. An der großen Flügeltür stieß er auf Wilhelm Knöpfle, den Leiter des Kogarthauses. Der hatte die Schneeberge vor Davos mit denen von Ferghana vertauscht, als der Wintersport hier oben in Mittelasien Mode wurde. Die Begegnung gab Wellington Fox Veranlassung, seinem Herzen Luft zu machen.
»Schlechtes Wetter, Herr! Die Luft gefällt mir nicht. Ich fürchte, es wird nach Sonnenuntergang noch mehr Lawinenschläge geben. Einige Leute hier hätten ihre Unternehmungslust zügeln und besser zu Hause bleiben sollen.«
Der Direktor zuckte kaum merklich mit den Achseln.
»Drinnen ist die Luft auch nicht besonders. Gewitterspannung. Eine Atmosphäre, geladen mit allerlei Mißtrauen und verborgener Feindschaft …«
Wellington Fox warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Sind neue Nachrichten aus Peking da?«
»Immer noch das alte Lied. Die verhüllte Weisheit befindet sich auf dem Wege zur vollen Genesung …«
Jetzt war es an Wellington Fox, mit den Achseln zu zucken.
»Der Weg scheint sich in die Länge zu ziehen … Ich mache mir meinen Vers auf die Sache …«
»Gehen Sie in den Gesellschaftssaal, Mr. Fox. Sie werden einen interessanten Fünfuhrtee finden!«
Wellington Fox betrat den großen, prunkvoll ausgestatteten Saal, in dem eine kaukasische Kapelle ihre Weisen ertönen ließ. Man war hier im asiatischen Davos. In zweitausend Meter Höhe an den Hängen der Kogartberge gelegen, bot das Haus seinen Gästen bis tief in den Frühling hinein Gelegenheit zu allem alpinen Sport. Während unten bei Andischan schon die Wiesen geschnitten wurden und die Obstbäume abgeblüht hatten, lag hier oben noch die dichte weiße Decke über den Hängen und bot den Skiläufern gute Wege.
Aus allen Enden der Welt kamen die Gäste hier zusammen. Aus Europa und Amerika waren sie da. Neben Mongolen und Tataren, Turkmenen und Persern saßen Inder und Japaner. Die Tage waren dem Sport gewidmet, die Abende dem gesellschaftlichen Vergnügen. Längst war der Schneesport international im weitestgehenden Sinne des Wortes. Die Angehörigen der gelben und braunen Rasse pflegten ihn ebenso leidenschaftlich und mit gleicher Vollkommenheit wie die Weißen.
Alle Farben waren hier vertreten, aber auf den ersten Blick war es kaum zu bemerken. Der Gletscherbrand hatte alle diese Gesichter noch einmal gefärbt, hatte ihnen die besondere rötlichbräunliche Tönung gegeben, unter der die ursprüngliche Hautfarbe fast verschwand.
An kleinen Tischen saßen die Gäste in dem großen Saal. Erfrischungen aller Art wurden gereicht, und die Kapelle übertönte die Unterhaltung der einzelnen Gruppen.
Wellington Fox fand einen leeren Tisch in einer Ecke. Er begann seine Musterung und fand die Bemerkung des Hoteldirektors bestätigt. Die Sonderung der Farben war heute stärker ausgeprägt als an anderen Tagen. Es fehlten die Gruppen, in denen weiße, gelbe und braune Mitglieder der großen Sportgemeinde früher wohl zusammensaßen.
Wellington Fox witterte hier, wie er draußen auf der Balustrade gewittert hatte. Von Tisch zu Tisch wanderten die scharf blickenden Augen, und mit der charakteristischen Bewegung sog er die Luft ein. Er hätte darauf wetten mögen, daß die Gelben hier allerlei mehr wußten als er.
Die Instinkte des Jägers und des Berichterstatters wurden in ihm wach. Zum Teufel … weg mit diesen Gedanken … Die Sorge um Helen Garvin nahm ihn wieder gefangen.
Wellington Fox erhob sich und schritt durch den Saal. Irgendwie mußte er sich Gewißheit verschaffen. Telefonieren … Rundfragen … Er trat in die Kanzlei und starrte auf die stummen Apparate … Da … ein Ruf eines der hier aufgestellten lautsprechenden Telephone.
MacGornick sprach: »… großes Unglück … sofort vom Hotel Rettungsexpedition schicken … Lawinenschlag … Begleiterinnen Gräfin Toresani und Helen Garvin verschüttet.«
Bevor noch der Portier eingreifen konnte, hatte Wellington Fox den Schalthebel gedreht und die Geberstation des Hotels eingeschaltet. Scharf und knapp kamen seine Rückfragen … wo der Unfall geschehen sei … am Ketmansteg … genau unterhalb des Kogartpasses.
Im nächsten Moment warf Wellington Fox das Mikrophon dem Portier gegen die Brust und stürmte aus der Kanzlei. Im Vorraum stand allerlei Sportgerät. Ohne Besinnen griff er die ersten besten Skier und eilte weiter. In vollem Gesellschaftsanzug war er für eine Skitour nicht eben sehr glücklich gekleidet. An einem Haken sah er den dicken wolligen Pelz eines der eingeborenen kirgisischen Führer hängen und riß ihn mit einem Ruck an sich.
So stürmte er ins Freie. Der aufgehende Mond beleuchtete unsicher die schneebedeckten Hänge und Flächen. Mit geübten Händen zog er die Bindungen der Skier über seine Lackschuhe. Schon im Gleiten, warf er den Pelz über.
Eine Minute nach dem Empfang von MacGornicks Notruf schoß Wellington Fox ohne Rücksicht auf die Gefahr in sausender Talfahrt auf den dreihundert Meter tiefer gelegenen Ketmansteg zu.
Jetzt noch über eine steile Halde hundert Meter hinab … jetzt sah er eine einzelne Gestalt auf der weiten weißen Fläche … war im Augenblick heran … versuchte im letzten Moment durch Abdrehen der windenden Fahrt Herr zu werden … und merkte, daß es nicht mehr ging. Gewaltige, wild und wirr durcheinandergeworfene Schneemassen versperrten ihm den Weg. Mit Aufbietung aller seiner Kraft schnellte er sich in die Höhe, streifte in gewaltigem Sprung MacGornicks Gestalt dort, daß sie der Länge nach in die weißen Flocken hinschlug, und landete dann selbst inmitten der wild aufgetürmten Schneemassen.
Das Mondlicht reichte eben aus, um die Dinge in der nächsten Umgebung zu erkennen. Eine gewaltige Lawine war halb schräg von der Paßhöhe her zu Tal gegangen. Er konnte ihre Spur die Hänge hinauf bis weit nach Norden erblicken. Hier in der Schlucht des Ketmansteges waren die stürzenden Massen zum größten Teil zur Ruhe gekommen. Nur ein Teil hatte sich noch über die Höhe des südlichen Schluchtrandes hinauf gestaut und war über ihn weiter hinab in das Tal gestürzt.
Bevor noch MacGornick sich durch die Schneemassen langsam zu ihm hinzuarbeiten begann, strebte er, so schnell es der zu wirren Blöcken zusammengepreßte Schnee gestattete, der Stelle zu, wo die Bruchstücke eines Schneeschuhes aus den eisigen Massen ragten. Das letzte Zeichen der Personen, die hier vom weißen Tod überrascht worden waren.
Seine Rechte fuhr zur Brusttasche. Jetzt hielt er eine der winzigen Tuben in der Hand, die ihm Georg Isenbrandt in Wierny gegeben hatte. Undenkbar erschien es ihm, daß die geringfügige Menge des unscheinbaren Pulvers gegen die ungeheure, hier in der Schlucht gestaute Schneemasse etwas ausrichten könnte. Aber noch während er den Gedanken dachte, hatte er schon den Verschluß geöffnet. Mit den Fingerspitzen griff er das Pulver und streute die Stäubchen wie kostbare Samenkörner in die Schneewüste, während er den gebrochenen Ski in immer weiter werdenden Spiralen umkreiste.
»Georg, hilf!« …
Wie ein Stoßgebet kam es ihm von den Lippen, während er sich durch die Schneemassen seinen Weg bahnte und Körnchen auf Körnchen streute. Jetzt war die Tube leer, und jetzt stieß er auf MacGornick.
Der Schotte wollte sprechen … wollte fragen, ob die Hilfsexpedition schon unterwegs wäre.
Mit einem schlecht unterdrückten Fluch wandte Wellington Fox ihm den Rücken … und sah über der ganzen Fläche, die er eben noch im Mondlicht begangen und bestreut hatte,