Kap. XII. (§ 40.) Dass nun die Lust das höchste Gut ist, lässt sich leicht daraus abnehmen, dass, wenn man sich einen Menschen vorstellt, der alle Lust der Seele und des Körpers in hohem Maasse, in grosser Menge und ohne Unterlass geniesst, dabei weder durch Schmerzen gedrückt, noch davon bedroht wird, man sich keinen bessern und wünschenswerthern Zustand wie diesen denken kann. Ein Mensch in diesem Zustande muss eine Festigkeit der Seele besitzen, die weder den Tod noch die Schmerzen fürchtet; denn im Tode hat man keine Empfindung mehr, und der Schmerz wird durch seine Länge leichter, und ist er schwer, so pflegt er nur kurze Zeit zu währen, so dass über dessen Schwere sein rasches Vorübergehen und über seine Dauer seine Leichtigkeit tröstet. (§ 41.) Dazu kommt, dass in solchem Zustande den Menschen kein göttliches Wesen ängstigt und die vergangene Lust ihm nicht entschwindet; vielmehr freut er sich ihrer in steter Erinnerung. Wie könnte da noch irgend etwas Besseres zu solchem Zustande hinzutreten? Nimm dagegen Jemand, der von so grossen körperlichen und geistigen Schmerzen gebeugt wird, wie sie einen Menschen nur treffen können, der dabei keine Aussicht hat, dass sie sich lindern werden, und der weder jetzt eine Lust fühlt noch eine solche erwartet, kann man da einen noch elendern Zustand nennen oder sich vorstellen? Wenn ein von Schmerzen erfülltes Leben am meisten zu fürchten ist, so ist offenbar ein Leben in Schmerzen das höchste Uebel, und dem entspricht, dass ein Leben in Lust das höchste ist. Denn unsre Seele hat sonst Nichts, was ihr als Endziel gelten könnte; alle Furcht und alle Krankheit wird auf den Schmerz zurückgeführt, und es giebt ausserdem Nichts, was seiner Natur nach Sorge oder Angst erwecken könnte. (§ 42.) Ueberdem nimmt alles Begehren, alles Verabscheuen und alle Thätigkeit ihren Anfang von der Lust oder dem Schmerz, und wenn dies richtig ist, so erhellt, dass alles Rechte und Löbliche auf ein von Lust erfülltes Leben abzielt. Wenn nun Das als das höchste, oder letzte, oder äusserste Gut gelten muss (die Griechen nennen es telos), Was an sich selbst auf nichts Anderes bezogen wird, aber auf welches alles Andere bezogen wird, so muss man anerkennen, dass ein angenehmes Leben das höchste Gut ist.
Kap. XIII. Jene, welche dies höchste Gut nur allein in die Tugend setzen und, durch den Glanz des Wortes geblendet, nicht erkennen, was die Natur verlangt, würden von diesem grossen Irrthume befreit werden, wenn sie den Epikur hören wollten. Denn wenn diese Eure vortrefflichen und schönen Tugenden zu keiner Lust führten, so würde sie Niemand für etwas Löbliches oder Begehrenswerthes halten. So schätzt man die Kunst der Aerzte nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie die Gesundheit bewirkt, und die Kunst des Steuermannes wird nicht als solche, sondern wegen ihres Nutzens für die gute Schifffahrt gelobt, und so würde auch die Weisheit, die nur als die Lebenskunst anzusehen ist nicht begehrt werden, wenn sie nichts bewirkte; man verlangt nach ihr nur, weil sie gleichsam der Werkmeister ist, der die Lust beschafft und bereitet. (§ 43.) Ihr seht also, was ich unter der Lust verstehe; deshalb lasst Euch durch ihren verhassten Namen meine Rede nicht abschwächen. Nur weil man die Güter und Uebel nicht kennt, wird das Leben hauptsächlich beschwerlich; wegen dieses Irrthums büsst man oft die grössten Freuden ein und wird von den härtesten Seelenschmerzen gepeinigt. Deshalb bedarf man der Weisheit, welche alle Strecken und Begierden beseitigt, alle dreisten, falschen Meinungen zerstört und sich damit als den sichersten Führer zur Lust bewährt. Denn nur die Weisheit allein vermag die Seele von der Traurigkeit zu befreien; nur sie lässt uns durch die Furcht nicht in Schrecken gerathen; unter ihrer Führung kann man die Hitze aller Begierden kühlen und ein ruhiges Leben führen. Denn die Begierden sind unersättlich; nicht blos Einzelne, sondern ganze Familien bringen sie in das Verderben, ja oft erschüttern sie selbst den Staat. (§ 44.) Von den Begierden kommt der Hass, die Uneinigkeit, der Streit, der Aufruhr, der Krieg. Auch werfen sie sich nicht blos nach Aussen und stürzen in blindem Ungestüm nicht blos auf Andere, sondern auch innerlich, in der Seele eingeschlossen, streiten und bekämpfen sie sich selbst und verbittern damit das Leben. Deshalb kann nur der Weise, der alle Eitelkeit und allen Irrthum von sich abgethan und beseitigt hat, zufrieden in den von der Natur gesetzten Schranken ohne Aerger und Furcht sein Leben verbringen. (§ 45.) Denn welche Unterscheidung ist wohl nützlicher und für ein gutes Leben geeigneter, als die, welche Epikur gezogen hat? In die eine Klasse der Begierden stellte er die natürlichen und zugleich nothwendigen, in die zweite die natürlichen, aber nicht nothwendigen, und in die dritte die, welche weder natürlich noch nothwendig sind. Ihr Verhältniss ist der Art, dass die notwendigen ohne viele Mühe und Kosten sich befriedigen lassen. (§ 46.) Ebenso verlangen auch die natürlichen nicht viel, weil die Natur selbst die Güter, mit denen sie zufrieden ist, bereitet und abgrenzt; nur von den eitlen Begierden kann weder ein Maass noch ein Ende gefunden werden.
Kap. XIV. Wenn man sieht, wie der Irrthum und die Unwissenheit das ganze Leben in Verwirrung bringt, und wie nur die Weisheit uns vor dem Ungestüm der Lüste und den Schrecknissen der Furcht schützt; wie sie selbst das Unrecht des Schicksals uns mit Geduld ertragen lehrt und die Wege weist, welche zur Ruhe und zur Freiheit von Gemüthsbewegungen führen, wie konnte man da zweifeln und nicht offen anerkennen, dass die Weisheit wegen Gewinnung der Lust zu erstreben und die Unwissenheit wegen des Ungemachs zu fliehen sei! (§ 47.) Aus demselben Grunde wird, nach unsrer Lehre, auch die Mässigkeit nicht um ihrer selbst willen gesucht, sondern weil sie der Seele den Frieden bringt und die Gemüther gleichsam durch eine gewisse Eintracht beruhigt und besänftigt. Denn die Mässigkeit ist es, welche uns ermahnt, in dem Begehren und dem Fliehen der einzelnen Dinge der Vernunft zu folgen, da es nicht genügt, dass man richtig beurtheile, was zu thun und zu unterlassen sei, sondern dass man auch an diesem Urtheile festhalte. Die meisten Menschen können nicht bei dem, was sie selbst beschlossen haben, beharren und verbleiben, sondern lassen sich durch den entgegentretenden Reiz der Lust besiegen und verführen. Damit begeben sie sich in die Fesseln ihrer Lüste, sehen das Kommende nicht voraus und gerathen deshalb um einer geringen Lust willen, die entweder vermeidlich war, oder die auf andere Weise erlangt werden konnte, oder die sie allenfalls auch ohne Schmerzen entbehren konnten, theils in schwere Krankheiten, theils in Schaden, theils in Schande, ja, oft verfallen sie auch den Strafen der Gerichte und Gesetze. (§ 48.) Wer aber die Lust so zu geniessen vermag, dass kein Schmerz daraus für ihn hervorgeht, und wer in seinen Urtheilen zurückhält, um nicht, durch die Lust besiegt, das zu thun, was nach der eigenen Ansicht nicht geschehen soll, der erreicht gerade durch Beiseiteschiebung solcher Lust die höchste Lust, und der erträgt auch oft einen Schmerz, um nicht sonst in einen grösseren zu gerathen. Hieraus erhellt, dass auch die Unmässigkeit nicht um ihrer selbst willen zu fliehen ist, und dass man die Mässigkeit nicht begehrt, weil sie die Lust flieht, sondern weil sie die grössere Lust bereitet.
Kap. XV. (§ 49.) Dasselbe wird sich auch für die Tapferkeit ergeben. Denn weder die Verrichtung einer Arbeit noch das Erleiden eines Schmerzes lockt an sich an; auch thut dies nicht die Geduld, die Emsigkeit, das Nachtwachen, ja, selbst der vielgerühmte Fleiss und selbst die Tapferkeit nicht; vielmehr folgt man ihren Geboten nur, damit man ohne Sorgen und Furcht leben könne und man Seele und Leib nach Möglichkeit vor Ungemach bewahre. So wie die Todesfurcht den ganzen Zustand eines ruhigen Lebens verwirrt, und so wie es jämmerlich ist, wenn man den Schmerzen unterliegt oder sie nur mit gedrücktem oder schwächlichem Sinne erträgt, und wie ob dieser Geistesschwäche Viele ihre Eltern, Viele ihre Freunde, Manche ihr Vaterland, die Meisten aber sich selbst gänzlich ins Verderben gestürzt haben, so hält sich umgekehrt ein starker und erhabener Sinn frei von aller Angst und Sorge und verachtet selbst den Tod; denn wer davon getroffen wird, ist eben nur so daran, als wie vor seiner Geburt. Ein solcher ist bereit, Schmerzen zu ertragen, denn er weiss, dass die grössten mit dem Tode enden, dass die kleinen viele Pausen der Ruhe haben und dass man Herr der mässigen Schmerzen werden kann, so dass die erträglichen ausgehalten werden können, und bei den härteren man mit Seelenruhe das Leben, wenn es nicht gefällt, wie ein Theater verlassen kann. Daraus ergiebt sich, dass die Furchtsamkeit und Trägheit nicht ihretwegen getadelt und die Tapferkeit und Gelassenheit nicht ihretwegen gelobt werden; sondern man verwirft jene, weil sie Schmerzen, und wählt