Kap. X. (§ 32.) Damit Ihr indess erkennt, woher dieser ganze Irrthum gekommen ist, und weshalb man die Lust anklagt und den Schmerz lobet, so will ich Euch Alles eröffnen und auseinander setzen, was jener Begründer der Wahrheit und gleichsam Baumeister des glücklichen Lebens selbst darüber gesagt hat. Niemand, sagt er, verschmähe, oder hasse, oder fliehe die Lust als solche, sondern weil grosse Schmerzen ihr folgen, wenn man nicht mit Vernunft ihr nachzugehen verstehe. Ebenso werde der Schmerz als solcher von Niemand geliebt, gesucht und verlangt, sondern weil mitunter solche Zeiten eintreten, dass man mittelst Arbeiten und Schmerzen eine grosse Lust sich zu verschaften suchen müsse. Um hier gleich bei dem Einfachsten stehen zu bleiben, so würde Niemand von uns anstrengende körperliche Uebungen vornehmen, wenn er nicht einen Vortheil davon erwartete. Wer dürfte aber wohl Den tadeln, der nach einer Lust verlangt, welcher keine Unannehmlichkeit folgt, oder der einem Schmerze ausweicht, aus dem keine Lust hervorgeht? (§ 33.) Dagegen tadelt und hasst man mit Recht Den, welcher sich durch die Lockungen einer gegenwärtigen Lust erweichen und verführen lässt, ohne in seiner blinden Begierde zu sehen, welche Schmerzen und Unannehmlichkeiten seiner deshalb warten. Gleiche Schuld treffe Die, welche aus geistiger Schwäche, d.h. um der Arbeit und dem Schmerze zu entgehen, ihre Pflichten verabsäumen. Man kann hier leicht und schnell den richtigen Unterschied treffen; zu einer ruhigen Zeit, wo die Wahl der Entscheidung völlig frei ist und nichts hindert, das zu thun, was den Meisten gefällt, hat man jede Lust zu erfassen und jeden Schmerz abzuhalten; aber zu Zeiten trifft es sich in Folge von schuldigen Pflichten oder von sachlicher Noth, dass man die Lust zurückweisen und Beschwerden nicht von sich weisen darf. Deshalb trifft der Weise dann eine Auswahl, damit er durch Zurückweisung einer Lust dafür eine grössere erlange oder durch Uebernahme gewisser Schmerzen sich grössere erspare. (§ 34.) Wenn ich an diese Lehre mich halte, weshalb sollte ich da fürchten, sie mit dem Benehmen unserer Torquater nicht in Uebereinstimmung bringen zu können? Du hast ihrer eben in treuer Erinnerung und in freundschaftlicher und wohlwollender Gesinnung gedacht, aber ich werde mich durch dies Lob meiner Vorfahren nicht verführen, noch in meinen Antworten bedenklich machen lassen. Ich bitte, in welcher Weise willst Du ihre Thaten erklären? Sollten sie nach Deiner Meinung bei ihrem Anstürmen gegen die bewaffneten Feinde oder bei ihrer Härte gegen ihre Kinder und ihr Blut nicht au ihren Nutzen, nicht an ihren Vortheil gedacht haben? Aber nicht einmal die wilden Thiere handeln so; selbst diese stürzen und stürmen nicht so, dass man nicht einsehen könnte, wohin ihre Bewegungen und Sprünge abzielen. (§ 35.) Sollten da solche ausgezeichnete Männer so grosse Thaten ohne Grund verrichtet haben? Welcher Grund hier gewirkt hat, werden wir bald sehen; vorläufig halte ich fest, dass, wenn sie wegen irgend eines Grundes dergleichen unzweifelhaft herrliche Thaten verrichtet haben, jedenfalls dann die Tugend an sich für sie nicht der Grund gewesen sein kann. Du sagst: Er hat dem Feinde die Halskette entrissen! – Aber er deckte sich auch, um nicht umzukommen. – Allein er hat sich doch einer grossen Gefahr ausgesetzt. – Ja, aber im Angesicht seines Heeres. – Aber was hätte er damit erreicht? – Lob und Liebe, die sichersten Schutzmittel, um das Leben ohne Furcht zuzubringen. – Er hat seinen Sohn mit dem Tode bestraft. – Hätte er es ohne Grund gethan, so möchte ich nicht der Nachkomme eines so schroffen und grausamen Mannes sein; that er es, um durch seinen Schmerz den Gehorsam und die Achtung vor seinem Feldherrnamt zu stärken und das Heer in einem der schwersten Kriege durch die Furcht vor Strafe in Zucht zu erhalten, so hat er für das Wohl der Bürger gesorgt, in dem, wie er wusste, auch das seinige enthalten war. (§ 36.) Und diese Gründe reichen weit. Alles, was Eure Reden Rühmeswerthes beigebracht haben, und was insbesondere Du mit Eifer aus den alten Zeiten herbeigeholt hast, wo berühmte und tapfre Männer ihre Thaten nicht um eines Vortheils willen, sondern im Glanze der Rechtschaffenheit vollbracht haben sollen, dies Alles fällt zusammen, wenn, wie ich gesagt, jene Auswahl unter den Dingen statthat und entweder eine Lust aufgegeben wird, um eine desto grössere dadurch zu erlangen, oder wenn ein Schmerz übernommen wird, um grösseren Schmerzen dadurch zu entgehen.
Kap. XI. (§ 37.) Damit dürfte über die glänzenden und ruhmvollen Thaten grosser Männer hier genug gesagt sein, und ich werde bald eine passendere Gelegenheit haben, um die Richtung aller Tugenden nach der Lust hin darzulegen. Jetzt will ich erklären, was und welcher Art die Lust selbst ist, um die irrigen Meinungen Unerfahrener zu beseitigen und zu zeigen, wie ernst, entschlossen und streng jene Lehre ist, die man für wollüstig, verzärtelt und verweichlicht zu halten pflegt. Denn wir suchen nicht blos jene Lust, die durch ihre Süssigkeit die Natur von selbst erregt und von den Sinnen angenehm empfunden wird, sondern vor Allem die Lust, welche man durch die Entfernung allen Schmerzes empfindet. Denn wenn man vom Schmerz erlöst wird, so erfreut man sich gerade an dieser Befreiung und Leere von aller Unannehmlichkeit; Alles aber, dessen man sich erfreut, ist eine Lust, so wie Alles, was uns verletzt, ein Schmerz ist. Deshalb kann die Befreiung von allem Schmerz mit Recht eine Lust genannt werden. So wie der durch Speise und Trank gestillte Hunger und Durst lediglich mittelst der Beseitigung des Unangenehmen die Lust zur Folge hat, so bewirkt überall die Beseitigung des Schmerzes als Folge die Lust. (§ 38.) Deshalb nahm Epikur kein Mittleres zwischen Schmerz und Lust an, weil gerade jener Zustand, wo man von allen Schmerzen frei ist und welcher Manchem als das Mittlere erscheint, nicht blos eine Lust, sondern sogar die höchste Lust ist. Jedweder, der sich erregt fühlt, muss entweder in Lust oder in Schmerz sich befinden. Mit der Beseitigung aller Schmerzen ist aber nach Epikur die höchste Lust erreicht; man kann dann wohl die Art der Lust noch wechseln und unterscheiden, aber sie nicht mehr vergrössern und erweitern. (§ 39.) In Athen befindet sich, wie ich von meinem Vater gehört habe, der damit die Stoiker witzig und fein verspottete, auf dem Topfmarkte eine Bildsäule des Chrysipp mit vorgestreckter Hand, welche zeigen soll, wie er sich an folgendem kurzen Schluss ergötzt habe: »Begehret Deine so ausgestreckte Hand, wie sie es jetzt ist, etwas? – Durchaus nichts. – Aber wenn die Lust ein Gut ist, so würde sie es begehren? – Ich glaube ja. – Also ist die Lust kein Gut.« Nicht einmal die Bildsäule, meinte mein Vater, würde, wenn sie reden könnte, so sprechen; denn dieser Schluss treffe wohl die Cyrenaiker richtig, aber nicht den Epikur. Wenn nur dasjenige Lust