Der größte Teil der furchtbaren Nacht war dahingegangen, und sie, die tot gewesen, rührte sich wieder. Und die Lebenszeichen waren jetzt kräftiger als bisher, obgleich sie vordem in eine Auflösung gesunken war, die stärker schien als alle früheren.
Ich hatte es schon längst aufgegeben, mich zu bemühen, mich überhaupt noch zu rühren. Ich saß erstarrt auf der Ottomane, eine hilflose Beute wilder Aufregungen, deren geringste eine maßlose Angst war. Der Leichnam, ich wiederhole es, rührte sich und war lebhafter als bisher. Die Farben des Lebens schossen mit unglaublicher Energie ins Antlitz, die Glieder wurden wieder beweglich, und wenn die Augenlider nicht noch immer fest geschlossen geblieben wären, wenn der Leib nicht noch immer still in seinen Grabtüchern und Bändern dagelegen hätte, so hätte ich glauben müssen, daß Rowena sich endgültig aus den Fesseln des Todes befreit habe. Doch wenn bis dahin dieser Gedanke noch entschieden zurückgewiesen werden mußte, so schwanden alle Zweifel, als nun das leichentuchumhüllte Wesen vom Bette aufstand und schwankend, unsicheren Schrittes, mit geschlossenen Augen und mit dem Gebaren eines Traumwesens, doch körperlich sichtbar und fühlbar, sich in die Mitte des Zimmers vorbewegte. Ich zitterte nicht, ich rührte mich nicht, denn ein Schwarm seltsamer Empfindungen, die sich an das Aussehen, die Gestalt und ihre Bewegungen knüpften, hatte mein Hirn überfallen und mich ganz gelähmt. Ich rührte mich nicht – doch meine Blicke hingen an der Erscheinung. Meine Gedanken taumelten wie im Wahnsinn, tobten und ließen sich nicht halten und bändigen. Konnte das wirklich die lebende Rowena sein, die mir da gegenüberstand? Konnte es überhaupt Rowena sein, die blondhaarige, blauäugige Lady Rowena Trevanion of Tremaine? Warum, warum sollte ich es bezweifeln? Die Binde lag fest um den Mund – aber warum sollte es nicht der Mund, der atmende Mund der Lady of Tremaine sein? Und die Wangen – sie trugen Rosen wie im Mittag ihres Lebens – ja, das waren wohl sicher die schönen Wangen der lebenden Lady of Tremaine. Und das Kinn, das Kinn mit den Grübchen der Gesundheit, war es nicht das ihre? –
Aber war sie denn in ihrer Krankheit gewachsen? Welch unaussprechlicher Wahnsinn faßte mich bei dem Gedanken? Ein Sprung, und ich lag zu ihren Füßen!
Sie wich meiner Berührung aus, und die gräßlichen Leintücher, die den Kopf umschlossen hatten, lösten sich und fielen nieder. In die wehende Atmosphäre des Gemachs strömten Wogen aufgelösten Haares: es war schwärzer als die Rabenschwingen der Mitternacht!
Und nun öffneten sich langsam die Augen der Gestalt, die dicht vor mir stand. »Hier, hier endlich«, schrie ich laut, »kann ich mich niemals – niemals irren: dies sind die großen und schwarzen und wilden Augen – meiner verlorenen Geliebten – die Augen – der Lady Ligeia!«
Der Teufel im Glockenstuhl
The Devil in the Belfry (1839)
Was hat die Uhr geschlagen?
Alte Redensart
Der schönste Ort von der Welt ist – oder vielmehr war –, wie jedermann weiß, der holländische Burgflecken Vondervotteimittis. Da er aber etwas abseits von der Heerstraße liegt, so haben vielleicht nur wenige meiner Leser ihm je einen Besuch abgestattet. Um dieser letzteren willen ist es also wohl gerechtfertigt, wenn ich das Städtchen ein wenig beschreibe; und dies ist um so nötiger, als ich in der Hoffnung, die allgemeine Teilnahme dorthin zu lenken, hier einen Bericht der unheilvollen Ereignisse geben will, die sich unlängst dort zutrugen. Wer mich kennt, wird nicht daran zweifeln, daß ich mich dieser freiwillig übernommenen Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen erledigen werde – mit all der kühlen Unparteilichkeit und Sachlichkeit, wie sie dem zukommt, der auf den Titel eines Geschichtsschreibers Anspruch erhebt.
Durch das Studium von Münzen, Handschriften und Inschriften bin ich in der Lage, feststellen zu können, daß der Ort Vondervotteimittis seit seiner Gründung stets so ausgesehen hat wie heutzutage noch. Den Zeitpunkt jener Gründung aber kann ich leider nur mit eben der unklaren Klarheit angeben, wie sie zuweilen von Mathematikern bei gewissen algebraischen Formeln angewendet wird. Ich kann also sagen, in Anbetracht des hohen Alters dieses Ortes dürfte das Datum seiner Gründung ohne Zweifel so weit zurückliegen, wie es zu berechnen uns überhaupt möglich ist.
Was nun die Frage nach der Herkunft des Namens Vondervotteimittis anlangt, so bekenne ich, daß auch dies sich von mir nicht mit Sicherheit feststellen ließ. Unter einer Unzahl verschiedener Meinungen über diesen heiklen Punkt – spitzfindigen und gelehrten oder auch dem Gegenteil von beiden – konnte ich nichts wirklich Überzeugendes herausfinden. Vielleicht wäre der Ansicht von Grogswigg – die fast mit jener von Kroutaplentey übereinstimmt – unter Vorbehalt beizustimmen. Sie lautet: »Vondervotteimittis – Vonder, lies Donder – Votteimittis, quasi und Bleitziz – Bleitziz, veraltet für Blitzen.« Tatsächlich findet diese Ableitung einigermaßen ihre Unterstützung durch gewisse elektrische Entladungen auf der Spitze des Rathausturmes. Ich muß jedoch in einer so wichtigen Frage die Verantwortung ablehnen und verweise den Leser auf die »Oratiunculae de Rebus Praeteritis« von Dundergutz; siehe auch Blunderbuzzard »De Derivationibus«, pag. 27–5010, Folio, gotische Ausgabe, rot und schwarze Schrift, Schlagwort, keine Zahlen – das auch Randbemerkungen von der Hand von Stuffundpuff mit Kommentaren von Grundundguzzel enthält.
Ungeachtet der Unklarheit, in der wir bezüglich des Zeitpunktes seiner Gründung und der Ableitung seines Namens sind, so kann, wie ich schon vorher sagte, kein Zweifel sein, daß Vondervotteimittis immer so ausgesehen hat wie heutigen Tages. Der älteste Mann im Ort weiß von keiner – auch nicht der geringsten – Veränderung des Ortes, und in der Tat: schon der Gedanke an eine solche Möglichkeit ist eine Entweihung. Der Burgflecken liegt in einem kreisrunden Tal von etwa einer Viertelmeile Umfang, das von sanften Hügeln umgeben ist, die zu überschreiten die Bevölkerung nie gewagt hat. Sie begründet das damit, daß nach ihrer Meinung auf der andern Seite überhaupt gar nichts mehr sei.
Das Tal selbst ist ganz eben und durchweg mit Kacheln gepflastert; an seinem Rande hin zieht sich eine Reihe von sechzig kleinen Häusern. Diese, die mit dem Rücken an die Hügellehnen, blicken alle nach dem Mittelpunkt der Ebene, der von jeder Haustür genau sechzig Meter entfernt ist. Jedes Haus hat einen kleinen Garten vor sich, mit einem kreisrunden Fußweg, einer Sonnenuhr und vierundzwanzig Kohlköpfen. Die Bauten selbst sind einander so völlig gleich, daß man keinen vom andern unterscheiden kann. Infolge ihres hohen Alters haben sie einen etwas seltsamen Baustil, der aber darum nicht weniger malerisch ist. Sie sind aus kleinen, roten, schwarzumrandeten Ziegeln aufgebaut, so daß die Mauern wie ein Schachbrett aussehen. Die Häuser tragen ihre Giebel nach vorn, und über der Dachtraufe und dem Haupttor sind Kranzleisten – fast so mächtig wie das ganze übrige Haus. Die Fenster sind schmal und tief mit winzig kleinen Scheiben und viel Holzverschalung. Auf dem Dach sind eine Unmenge Ziegel mit langem, gebogenem Henkel. Alles Fachwerk ist sehr dunkel und hat viel Schnitzereien aufzuweisen; das Muster aber ist fast immer das gleiche. Seit Menschengedenken nämlich haben die Sehniger von Vondervotteimittis nie mehr als zwei Bilder schnitzen können: eine Uhr und einen Kohlkopf. Diese beiden aber können sie prächtig wiedergeben und bringen sie überall an, wo der Raum es erlaubt.
Die Wohnungen gleichen einander innen wie außen, und die Einrichtung ist überall die gleiche. Der Bodenbelag besteht aus viereckigen Kacheln, Tische und Stühle sind aus schwärzlichem Holz mit dünnen, krummen Beinen und zierlichen Füßen. Die Kaminsimse sind breit und hoch und weisen nicht nur gemeißelte Uhren und Kohlköpfe auf, sondern eine richtige Standuhr, die oben auf der Mitte des Simses steht und gewaltig tickt, und ferner einen Blumentopf mit einem Kohlkopf auf jeder Ecke des Simses. Zwischen jedem Kohlkopf und der Uhr wiederum befindet sich ein kleiner Chinese mit einem großen und dicken Bauch, der aber aus einem riesigen runden Loch besteht, aus dem das Zifferblatt einer Uhr hervorschaut.
Die Feuerstellen sind breit