Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe). Jean Jacques Rousseau. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jean Jacques Rousseau
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075837929
Скачать книгу
tragen. Wie kannst du verlangen, daß eine fühlende Seele unendliches Gute mit Maßen genieße? Wie kannst du verlangen, daß sie so viele Entzückungen zugleich aushalte, ohne außer sich zu gerathen? Weißt du nicht, daß es eine Gränze giebt, wo keine Vernunft widersteht, und daß kein Mensch auf der Welt ist, dessen Besonnenheit jede Probe aushielte? Habe daher Geduld mit der Fieberwuth, in die ich durch dich gefallen bin, und verachte nicht einen Irrsinn, der dein Werk ist. Ich bin nicht bei mir, ich gestehe es; meine Seele, mir entwandt, ist ganz in dir. Ich bin desto mehr im Stande, deine Schmerzen zu fühlen, und desto würdiger, sie zu theilen. O Julie, verstecke dich nicht vor deinem Selbst.

      Zweiunddreißigster Brief.

       Antwort.

       Inhaltsverzeichnis

      Es gab eine Zeit, mein liebenswürdiger Freund, wo unsere Briefe leicht und reizend waren; das Gefühl, welches sie uns eingab, floß mit natürlicher Anmuth: es bedurfte keiner Kunst und Schminke, und seine Reinheit war sein ganzer Schmuck. Diese glückliche Zeit ist nicht mehr! ach! sie kann nie wiederkehren; und die erste Wirkung dieses grausamen Wechsels ist, daß unsre Herzen aufgehört haben sich zu verstehen.

      Deine Augen haben meine Schmerzen gesehen. Du glaubst, die Quelle derselben entdeckt zu haben; du willst mich trösten mit eitelen Reden, und wenn du mich zu täuschen denkst, o Freund, du täuschest nur dich. Glaube mir, glaube dem zärtlichen Herzen deiner Julie; mein Schmerz ist viel weniger dies, daß ich der Liebe zu viel gewährt, als daß ich sie ihres größten Reizes beraubt habe. Jener süße, zauberische Hauch der Tugend ist dahin wie ein Traum; unsere Flamme hat jenes Himmelsfeuer eingebüßt, welches sie anfachte, indem es sie reinigte; wir haben die Lust gesucht, und weit entflohen ist das Glück. Erinnere dich jener köstlichen Augenblicke, wo unsere Herzen sich um so inniger verschmolzen, je mehr Scheu wir einander erwiesen, wo die Leidenschaft aus ihrer eigenen Ueberfülle die Kraft nahm, sich selbst zu besiegen, wo die Unschuld uns für den Zwang, den wir uns auferlegten, schadlos hielt, wo die Opfer, die wir der Ehre brachten, alle zum Vortheil der Liebe ausschlugen. Vergleiche jenen zauberischen Zustand mit unserer gegenwärtigen Lage! was für Gemüthserschütterung! was für Aengste! was für tödtliche Unruhe! Wie haben die ungemäßigten Gefühle ihre frühere Süßigkeit verloren! Wohin ist jener Eifer für Züchtigkeit und Sittsamkeit, mit welchem die Liebe alle Handlungen unseres Lebens beseelte, und der seinerseits die Liebe nur noch köstlicher machte? Unser Genuß war friedlich und dauerhaft, jetzt ist es nur ein wilder Rausch. Diese rasende Glückseligkeit gleicht eher Wuthanfällen, als zärtlichen Liebkosungen. Ein reines und heiliges Feuer brannte in unseren Herzen; den Verirrungen der Sinne preisgegeben sind wir nichts mehr als gemeine Liebhaber: zu viel Glück noch, wenn die eifersüchtige Liebe sich herabläßt, Freuden vorzustehen, die der niedrigste Mensch auch ohne sie genießen kann!

      Das ist unser Verlust, mein Freund, unser gemeinsamer Verlust, den ich nicht weniger deinetwegen als meinetwegen beweine. Ueber meinen eigenen sage ich kein Wort, dein Herz ist fähig, ihn zu fühlen. Sieh meine Scham, und seufze, wenn du Liebe hast. Mein Fehler ist nicht wieder gut zu machen, meine Thränen werden nie versiegen. O du, du, der sie fließen macht, hüte dich, so gerechte Schmerzen anzutasten! All meine Hoffnung ist, daß sie ewig sein werden: von allem meinem Unglück wäre dies das größte, wenn ich mich je trösten könnte; der äußerste Grad der Schande ist es, geht mit der Unschuld zugleich das Gefühl verloren, das uns antreibt, sie zu lieben.

      Ich weiß mein Geschick, ich fühle ganz, wie grauenvoll es ist, und dennoch bleibt mir ein Trost in meiner Verzweiflung, ein einziger, aber süßer Trost. Von dir erwarte ich ihn, mein liebenswürdiger Freund. Seitdem ich mir nicht mehr getraue, meine Blicke auf mich selbst zu wenden, richte ich sie mit größerem Vergnügen auf den Geliebten. Ich übertrage auf dich Alles, was du mir an meiner eigenen Achtung raubst, und du wirst mir nur um so theurer, indem du mich zwingst, mich zu hassen. Die Liebe, diese unselige Liebe, die mich vernichtet, giebt dir einen neuen Werth: du hebst dich, wenn ich mich erniedrige; deine Seele scheint alles das gewonnen zu haben, was der meinigen verloren ging. Sei denn du hinfort meine einzige Hoffnung; an dir ist es, meinen Fehltritt, wenn es möglich ist, zu rechtfertigen; bedecke ihn mit der Rechtschaffenheit deiner Gesinnung; lösche mit deinem Verdienst meine Schande aus: mache durch Tugenden, daß der Verlust derer, die du mich kostest, zu entschuldigen sei. Sei du mein ganzes Wesen, jetzt, da ich nichts bin. Die einzige Ehre, die mir bleibt, ist ganz in dir; und wofern du achtungswürdig sein wirst, werde ich nicht ganz und gar verächtlich sein.

      Wie leid mir die Wiederkehr meiner Gesundheit auch ist, ich werde sie nicht länger verbergen können; mein Gesicht würde mich Lügen strafen und mein Vorgeben, noch in der Besserung zu sein, kann Niemanden mehr täuschen. Beeile dich daher, bevor ich genöthigt bin, meine gewöhnlichen Beschäftigungen wieder vorzunehmen, den Schritt zu thun, den wir verabredet haben. Ich sehe deutlich, daß meine Mutter Argwohn gefaßt hat und daß sie uns beobachtet. Mein Vater denkt nicht daran, gestehe ich: diesem stolzen Edelmann kommt es gar nicht in den Sinn, daß ein Roturier in seine Tochter verliebt sein könne. Aber du weißt nun endlich, was er Willens ist; er wird dir zuvorkommen, wenn du ihm nicht zuvorkommst; und aus Sorge, dir deine Stellung im Hause zu bewahren, wirst du dich ganz und gar daraus verbannen. Thu, was ich dir sage, sprich mit meiner Mutter, weil es noch Zeit ist; schütze Arbeiten vor, die dich verhindern, meinen Unterricht fortzusetzen, und laß uns darauf verzichten, uns so oft zu sehen, damit wir uns wenigstens manchmal sehen können: denn wenn man dir die Thür weist, so kannst du dich nicht wieder zeigen; wenn du aber selbst gehst, so wird es gewissermaßen in deinem Belieben stehen, so oft Besuche zu machen, als du willst, und bei einiger Geschicklichkeit und Gefälligkeit wirst du sie künftig immer häufiger machen können, ohne daß man es auffallend oder unrecht finde. Ich werde dir heut Abend sagen, was für Gelegenheiten ich ausgedacht habe, uns außerdem zu sehen, und du wirst gestehen müssen, daß die unzertrennliche Cousine, welche ehemals so viel Murren erregte, jetzt zwei Liebenden gar nicht unnütz sein wird, die sie nie hätte verlassen sollen.

      Dreiunddreißigster Brief.

       Von Julie.

       Inhaltsverzeichnis

      Ach! mein Freund, was für eine schlechte Zuflucht ist doch für zwei Liebende eine Assemblée! Welche Qual, sich zu sehen und sich Zwang anzuthun! es wäre hundertmal besser, sich gar nicht zu sehen. Wie soll man eine ruhige Miene haben bei so großer Aufregung? Wie soll man so verschieden von sich selbst sein? Wie an so vielerlei Dinge denken, wenn man immer nur mit einem beschäftigt ist? Wie Blick und Geberde im Zügel halten, wenn das Herz davonfliegt? Ich habe mich in meinem Leben nicht so verwirrt gefühlt, als gestern, da du bei Frau von Hervart angemeldet wurdest. Die Nennung deines Namens kam mir wie ein Vorwurf gegen mich vor; es war mir, als müßten sich alle Leute zugleich nach mir drehen: ich wußte nicht mehr, was ich that; und als du eintratest, erröthete ich so ungemein, daß meine Cousine, die mich bewachte, genöthigt war, ihr Gesicht und ihren Fächer vorzubeugen, als ob sie mir etwas ins Ohr sagte. Ich zitterte, daß auch schon das einen schlimmen Eindruck machen und daß man ein Geheimniß hinter dieser Flüsterei suchen möchte. Mit Einem Wort, ich fand in Allem Ursache zu neuer Angst, und nie habe ich lebhafter gefühlt, wie ein böses Gewissen Zeugen gegen uns aufruft, die an nichts weniger gedacht haben.

      Clara wollte bemerken, daß du keine bessere Figur spieltest: du schienst ihr in Verlegenheit, wie du dich stellen, in Unruhe, wie du dich benehmen solltest, ohne Muth, heranzutreten oder mich anzureden oder dich zu entfernen, und mit den Blicken den ganzen Kreis durchlaufend, um, meinte sie, Gelegenheit zu haben, uns anzusehen. Als ich mich von meiner Aufregung ein wenig erholte, glaubte ich selber die deinige zu bemerken, bis die junge Madame Belon ein Gespräch mit dir angeknüpft hatte, und du dich plaudernd zu ihr setztest und an ihrer Seite ruhiger wurdest.

      Ich fühle, mein Freund, daß uns diese Lebensart, die so viel Zwang und so wenig Freude mit sich bringt, nicht taugt: wir haben uns zu lieb, um uns so sehr Gewalt anthun zu können. Diese öffentlichen Begegnungen sind nur für Leute gut, die von Liebe nichts wissen, sondern nur auf gutem fuße