Kapitel 8
Die Überlegungen gingen weiter.
Pauling aß mit einer Kontaktperson der United Nations zu Mittag. Sie war auch eine Frau. Sie und Pauling hatten eine geschäftliche Beziehung. Doch sie erkannten dieselben Prüfungen und Mühen ineinander wieder, die immer damit einhergingen, eine starke und intelligente Frau in der Welt zu sein.
Ihre Freundschaft brachte Vorteile.
Manchmal nutzte Pauling die Frau, um Informationen zu erhalten. Informationen, die sie von ihren üblichen Kontakten beim FBI nicht bekam. Oder beim State Department. Oder sogar aus ihren Datenbanken, für die sie jeden Monat beträchtliche Summen ausgab.
Manchmal gab es einfach keinen Ersatz für einen Insider.
Das war etwas, an das auch Jack Reacher fest glaubte, wie sie wusste.
Die Frau der UN bekam auch etwas. Hauptsächlich Karrieretipps und Welterfahrung. Die Frau der UN sprach mehrere Sprachen, war überall herumgekommen, allerdings nicht in denselben Kreisen, in denen Pauling sich bewegt hatte. Deswegen benutzte sie Pauling oft als Resonanzboden. Paulings analytischer Verstand war rasiermesserscharf und die Frau hatte die Ressource auf den ersten Blick erkannt.
Für Pauling war das Mittagessen ein Genuss. Eine wohltuende Pause. Ein wunderbarer Salat von grünem Feldgemüse, kandierten Walnüssen und geräuchertem Lachs. Mit einem Glas Mineralwasser. Und einem ausgezeichneten zum Nachdenken anregenden Gespräch.
Im Hinterkopf dachte Pauling allerdings an die Telefonnummer und den mysteriösen Umschlag mit Reachers Namen darauf.
Pauling liebte Geheimnisse. Und Rätsel. Deswegen war sie überhaupt in den Gesetzesvollzug gegangen.
Sie hatte Herausforderungen schon immer geliebt, und so hatte sie sich diese zum Beruf gemacht. Je schwieriger die Aufgabe, desto besser.
Nach dem Mittagessen ging Pauling zu Fuß zu ihrem Büro zurück. Es war ein sonniger Tag in New York; die Schatten der Gebäude minderten die Wärme, aber Pauling ging soweit möglich in der Sonne. Die meisten Büroangestellten waren wieder an ihren Schreibtischen und auf den Bürgersteigen herrschte relativ wenig Fußgängerverkehr. Das war eine der Annehmlichkeiten der Selbstständigkeit. Die Möglichkeit, seinen eigenen Zeitplan zu gestalten und sich hier und da einen Augenblick zu sichern, um sich zu entspannen.
In ihrem Büro begab sich Pauling an ihren Schreibtisch und rief eine der Datenbanken auf. Sie nutzte einen Rückwärtssuchdienst und forschte nach Informationen über die geheimnisvolle Telefonnummer.
Die Ergebnisse kamen prompt.
Es war ein Handy.
Auf jemanden in Albuquerque, New Mexico, registriert.
Das war interessant.
Pauling war noch nie in Albuquerque gewesen. Sie war in Las Cruces, New Mexico, gewesen, um einen Drogendealer zu jagen, der bei El Paso ins Land geschlüpft war. Irgendwann hatte sie ihn nahe des Mescalero-Reservats geschnappt, wo er sich in einem heruntergekommenen Wohnmobil versteckt hatte, das von einem achtzigjährigen Hippie-Paar gefahren wurde.
Aber sie war nie in Albuquerque gewesen. Sofort wanderten ihre Gedanken zu Reacher. Seine Reisen führten ihn überall hin, wie sie wusste. War er in Albuquerque gewesen? Hatte er die Nachricht von dort aus an ihr New Yorker Büro geschickt?
Für einen Augenblick fragte sie sich, ob Reacher Hilfe brauchte.
Und dann lachte sie sich für die Albernheit des Gedankens aus.
Reacher brauchte nie irgendjemandes Hilfe, soweit sie wusste.
Trotzdem blieb die Frage des Umschlags ein Rätsel und sie genoss die Zerstreuung.
Schließlich entschied sie, dass die Zeit des Nachdenkens vorüber war.
Sie nahm den Telefonhörer in die Hand, tippte die Zahlen ein und wartete auf eine Stimme am anderen Ende der Leitung.
Kapitel 9
Der IQ des Gefangenen lag ungefähr bei armseligen Neunzig oder so. Fünf Punkte unter dem untersten Ende des durchschnittlichen Spektrums menschlicher Intelligenz.
IQ und Persönlichkeit waren allerdings nicht miteinander verknüpft.
Seine antisozialen und soziopathischen Tendenzen waren ganz von allein entstanden. Sie waren nicht von seiner geistigen Kapazität verursacht worden; sie traten vielmehr deswegen zutage.
In anderen Worten, seine angeborene Wesensart verdammte ihn zu einem kriminellen Leben. Seine niedrige Intelligenz garantierte, dass er geschnappt wurde. Und das schnell.
Mit fünfzehn war der Mann – die Testperson – schon mehrmals inhaftiert gewesen. Bei seiner letzten Freilassung war er zum Aufenthalt in einem Resozialisierungszentrum verurteilt worden. Zu seinen weniger angenehmen Charakterzügen hatte er bald noch die Sucht hinzugefügt.
Heroin, um genau zu sein.
Das Angebot von Gratisdrogen führte zu seiner Abhängigkeit, und nun fand er sich festgeschnallt wieder, an einen Stuhl mit gerader Lehne, dessen Beine im Betonboden verankert waren.
Der Raum bestand komplett aus Beton, mit einem einzigen Deckenlicht und einem Rohr, das über die Länge der Wand verlief, hoch zur Decke, hin zu einem schmucklosen Duschkopf, der direkt über dem Kopf der Versuchsperson schwebte.
Der Gefangene hatte die merkwürdige Eingebung, dass er sich unter der Erde befand. Vielleicht lag es an der Qualität der Akustik. Oder an den fehlenden Fenstern. Oder am leicht feuchten, moderigen Geruch wie von einem Keller.
Hinter einem dicken Fenster mit Einwegscheibe beobachtete eine kleine Menschengruppe den Gefangenen. Sie betrachteten ihn mit großem Interesse. Jeder von ihnen hielt ein Klemmbrett mit einem Blatt voller Linien und Kästchen in der Hand, das sie benutzen würden, sobald das Experiment begann.
Hinter der Gruppe stand ein kahlköpfiger Mann von imposanter Statur. Er war fast zwei Meter groß, mit breiten Schultern und einem Gesicht, das aus scharfen Kanten bestand. Der Kopf des Mannes war rasiert, was mehrere Blutgefäße enthüllte, die gut sichtbar hervorstanden. Seine Augen waren klar und blau und ein bisschen mehr geweitet als normal, so als sei er entweder leicht überrascht oder als betrachte er die Welt um sich herum mit großer Intensität.
Diejenigen, die ihn gut kannten, wussten, dass Letzteres zutraf.
Sie wussten auch, dass es einen Grund gab, warum seine Blutgefäße erweitert waren. Er war sowohl ein Doktor der Medizin als auch der Philosophie. Sein medizinischer Abschluss verschaffte ihm großen Spielraum beim Selbstverordnen ungewöhnlicher und einzigartiger pharmazeutischer Produkte, die dazu bestimmt waren, seine Muskulatur sowie auch seinen Intellekt zu verbessern.
Die physischen Nebeneffekte waren allzu offensichtlich.
Die psychologischen Auswirkungen waren es nicht.
Die Gruppe vor dem Mann hatte jedoch nicht die Absicht, ihre Beobachtungen kundzutun. Sie war ausschließlich auf den Gefangenen auf der anderen Seite der Wand konzentriert. Jeder einzelne von ihnen wusste auch, dass der Mann hinter ihnen sie ebenso studierte wie das unglückliche Opfer, das an den Stuhl gebunden war. Es war ihnen lieber, in ihrer jetzigen Umgebung beobachtet zu werden, statt im Raum auf der anderen Seite der abgeschirmten Wand.
Irgendwo hinter ihnen klang ein dumpfes mechanisches Geräusch durch den Raum. Alle richteten sich gleichzeitig auf ihren Stühlen auf und brachten ihre Stifte in Position über ihren Papieren. Der Mann hinten blieb unbeweglich.
Ein gurgelndes Geräusch hallte durch den Raum, gefolgt von einem Zischen, und dann quoll ein Strom trübbrauner Flüssigkeit aus dem Duschkopf und ergoss sich über den Gefangenen darunter.
Der Mann kämpfte gegen seine Fesseln, jedoch ohne Erfolg.