Er weinte.
Einer der Männer mit den Knarren trat vor, hob seine Pistole und schoss zweimal. Die Waffe war mit einem Schalldämpfer ausgestattet und das Geräusch seiner Schüsse war kaum mehr als ein leises Puff. Es hatte kein Echo und verklang rasch.
Die Haare auf dem Kopf des sitzenden Mannes bauschten sich in die Höhe, als jede der Kugeln in seinen Schädel eintrat. Er kippte nach hinten und fiel auf den Rücken.
Der Schütze neigte seinen Kopf zur Seite und beurteilte, wie gut seine Schüsse den Mann ins Grab gelegt hatten.
Er schien vom Ergebnis enttäuscht zu sein.
Er schraubte den Schalldämpfer ab und schob ihn in eine Tasche. Dann steckte er die Waffe in ein verdecktes Holster unter seinem linken Arm.
Danach streckte er die Hand aus und zog die Füße des toten Mannes in seine Richtung, sodass die Leiche flach im Grab lag.
Der andere Mann holte die Schaufel und ging zu seinem Partner am Fußende des Grabs.
Er holte einen Vierteldollar aus seiner Tasche und lehnte den Schaufelgriff gegen seinen Bauch.
»Sag an.«
»Kopf.«
Der Mann mit der Münze warf sie in die Luft, fing sie und schlug sie auf seine andere Hand. Dann zog er die obere Hand schwungvoll weg.
Er zeigte dem anderen Mann die Münze, der daraufhin die Schaufel nahm und Sand auf den toten Mann zu werfen begann.
In der Ferne heulte der Kojote wieder.
Kapitel 2
Erst viel später, lange, nachdem die Leichen sich zu stapeln begonnen hatten und die Hölle losgebrochen war, würde Lauren Pauling anfangen, sich zu fragen, warum genau an diesem Morgen sie an Jack Reacher gedacht hatte.
Es war ein ziemlich routinemäßiger Start in den Tag gewesen.
Ein früher Kaffee. Schnell die New York Times durchblättern. Ein knallhartes Workout im Fitnessstudio, das im Keller ihres Apartmenthauses untergebracht war. Es war eine extreme Routine, die ein hartes Kardiotraining gefolgt von einem Hantelprogramm beinhaltete. Während sich Pauling der Fünfzig näherte, war sie besonders stolz darauf, dass ihr Trainingsplan wesentlich jüngere Frauen um Gnade betteln lassen würde.
Duschen, ein leichtes Frühstück und der Beginn ihres Arbeitstages.
Für Pauling bedeutete das, ihr Apartment in der Barrow Street zu verlassen und zu ihrem Büro in der 4. Street West zu gehen. Unterwegs betrachtete sie ihr Abbild in den Schaufenstern. Sie war ein bisschen größer als der Durchschnitt, mit goldblonden Haaren. Ihre erstaunlich grünen Augen waren im Spiegelbild nicht zu erkennen, aber sie waren oft das Erste, das die Menschen an ihr wahrnahmen. Sie konnte sie strategisch einsetzen, wenn sie musste.
Pauling erreichte das Bürogebäude, stieg die schmale Treppe hinauf und schloss ihre Zweiraum-Bürosuite auf.
Im vorderen Bereich befand sich ein zwangloser Aufenthaltsbereich mit zwei Stühlen und einem Tisch. Zeitschriften waren sorgfältig auf der Tischplatte arrangiert und auf jedem der Stühle lag ein Zierkissen. Die Wände beheimateten Kunstdrucke. Nicht teuer. Professionell.
Der zweite Teil, ihr tatsächliches Büro, lag hinten.
Pauling war Privatdetektivin. Ihre Premium-Visitenkarte verriet ein wenig mehr: Lauren Pauling. Privatermittlerin. Special Agent, FBI, a. D.
Unten stand eine Adresse mit 212- und 917-Telefonnummern für Festnetz und Handy sowie eine E-Mail-Adresse und eine Website-URL.
Wie auch die Frau selbst war die Visitenkarte professionell, elegant und direkt. Gleiches galt für ihre Website und ihr Büro.
Es war das Abbild von Effizienz und Prestige. Nicht übertrieben luxuriös, aber mit einem hochwertigen letzten Schliff, der die Kunden beeindruckte.
Pauling war nicht billig.
Ihre berufliche Umgebung spiegelte diese Tatsache wider.
Sie sah ihre E-Mails mit routinierter Effizienz durch. Innerhalb von dreißig Minuten war auf jede Frage eingegangen, jede erforderliche Handlung unternommen und jede unwichtige Nachricht abgelegt worden.
Vielleicht geschah es da, während der flüchtigen Ruhepause, dass sich ihre Gedanken Reacher zuwandten.
Natürlich taten sie das in Wahrheit oft.
Paulings letzter Fall beim FBI war die schlimmste Phase ihres Lebens gewesen. Eine Entführung war zu einem Mordfall geworden. Sie hatte sich wie eine Versagerin gefühlt, als habe sie das Opfer im Stich gelassen. Erst als Jack Reacher auftauchte, erschien der Fall Annie Lane wieder in ihrem Leben. Gemeinsam mit Reacher hatte sie schließlich Gerechtigkeit für Annie gefunden.
Und dann war Reacher verschwunden.
Das war seine Art; sie verstand das.
Aber die dadurch endlich herbeigeführte Gerechtigkeit, zusammen mit dem Wissen, dass sie, Pauling, nichts falsch gemacht hatte, hatte ihr neues Leben eingehaucht.
Sie war mit neu gewonnener Stärke in ihre Firma und zu ihrer Karriere zurückgekehrt. Infolgedessen war es mit ihrem Geschäft bergauf gegangen, bis zu dem Punkt, an dem sie oft Aufträge ablehnte oder Fälle an andere Ermittler übergab.
Jetzt schüttelte sie die Gedanken an Reacher ab.
Er war ein zäher Kerl, und einer, den man schwer vergaß.
Doch sie hatte versucht, ihn hinter sich zu lassen. Es war allerdings nicht leicht. Pauling hatte die romantische Vernarrtheit lange überwunden. Es hatte Männer gegeben. Erfolgreich. Beeindruckend. Freundlich.
Aber keiner von ihnen war wie Jack Reacher gewesen.
Und sie wusste ohne Zweifel, dass keiner je so sein würde. Es gab Jack Reacher – und dann gab es alle anderen.
Der Gedanke ans Weitermachen brachte ihr die Motivation, von ihrem Schreibtisch aufzustehen und zu ihrer Eingangstür zu gehen. Sie wollte am Briefkasten vorbeischauen und nachsehen, ob etwas zugestellt worden war. Sie versuchte nie länger als eine halbe Stunde am Stück am Schreibtisch sitzend zu verbringen. Sie besaß einen zweiten Schreibtisch rechts von ihrem Hauptarbeitsplatz, der nach oben gefahren werden konnte, sodass sie im Stehen arbeiten konnte.
Jetzt aber wollte sie sich bewegen. An Reacher zu denken, veranlasste sie immer, in irgendeiner Form aktiv zu werden.
Als sie gerade ihr Büro verlassen wollte, entdeckte Pauling einen bereits zugestellten Brief, der ordentlich unter ihrer Tür steckte.
Sie hatte niemanden kommen hören.
Es war ein wenig früh für die Post, und so nahm sie an, dass es eine Nachtzustellung war.
Aber das war es nicht.
Es war ein schlichtweißer Brief.
Auf dessen Vorderseite ein einzelnes Wort prangte:
Reacher.
Kapitel 3
Obwohl er für eine Organisation gearbeitet hatte, die über unklare und veränderliche Richtlinien verfügte, lebte Michael Tallon nach konkreten Regeln.
Wie man so schön sagt, ist die Welt nicht schwarz-weiß. Es gibt viele Grauschattierungen, so was in der Form.
Während das manchmal zutraf, bevorzugte Tallon es, so weit möglich in Schwarz und Weiß zu leben. Er verabscheute unklare Limits und fließende Grenzen. Vielleicht war es ein angeborener Wunsch nach der Fähigkeit, eine Bedrohung rasch zu erkennen. Sekundenbruchteilschnelle Entscheidungen zwischen richtig und falsch. Leben und Tod.
Tallons Gedanken wanderten zu diesen Regeln, als der Mann im Restaurant anfing, sich schlecht zu benehmen.