Ich schäle mich aus dem Handtuch und gehe unter die Dusche, der Dampf beschlägt die Fliesen des kleinen Badezimmers. Das ganze Zimmer ist so leer wie meine Seele. Keine Heimeligkeit. Kein Wohlbefinden. Kein Besitz. Nichts, das mir Freude bereitet. Als hätte man mein Inneres nach außen gestülpt, spiegelt die nachlässige Sterilität die Trostlosigkeit meiner Gedanken wider. Die Bettdecke ist nie aufgebettet und liegt meist zurückgeschlagen auf dem Doppelbett. Die hellbeige Tapete löst sich in den Zimmerecken schon leicht, und das dunkle Holz ist ausgeblichen.
Doch leider ist das hier kein Hotel, in dem ich nur übernachte, weil ich gerade auf einer Weltreise bin und hier als Zwischenstopp vor meiner Nordpol-Expedition halte. Hier leben wir. Hier sind wir frei, und auch wieder nicht. Man – die Mitglieder des Requiems – hat uns angewiesen, hauptsächlich im Fountains zu bleiben und die Hausarbeiten zu erledigen.
Ich komme mir vor, als wäre ich von einem Gefängnis in das nächste gesteckt worden, doch ich darf mich nicht beklagen. Hier geht es mir gut, das Requiem sorgt für uns. Um ehrlich zu sein, weiß ich noch immer nicht, wer hinter dem Requiem eigentlich steckt. Die einzigen Erwachsenen, die sich hier regelmäßig sehen lassen, sind Carter und Dr. Willem Sanders, der uns nach unserer Ankunft untersucht hat. Hin und wieder kann ich nachts beobachten, wie fremde Frauen und Männer in Carters Büro ein- und ausgehen. Und manchmal höre ich dann Dinge, die ich wahrscheinlich nicht hören sollte.
Denn hinter einem Mauervorsprung verborgen lausche ich den Gesprächen, wenn Carters Besuch das Büro verlässt. »Du solltest deine Leute besser kontrollieren, Geoffrey.« Das Schnauben der gänzlich in schwarz gekleideten Frau ist mir noch lebhaft in Erinnerung. »Wenn sie sich nicht an deine Regeln halten, wie kann man dann sicher sein, dass sie Befehle korrekt ausführen?« Mit etwas mehr Schwung als nötig drückten ihre Finger den Knopf neben der Fahrstuhltür.
Carter war ihr mit ausdruckslosem Gesicht gefolgt. »Ich habe diese Beziehung bereits unterbunden. Mach dir keine Sorgen, Karen. Er tut, was man ihm aufträgt.«
»Aber tut das Mädchen das auch?«, hat Cams Tante gefragt. »Sie erinnert mich an Cynthia. Die beide haben es gemeinsam, auf das Wohl der anderen keine Rücksicht zu nehmen.«
Im dumpfen Licht der Deckenleuchte huschte einen Moment lang ein Schmerz über Carters Gesicht. Doch er schwieg, bis sie ohne Verabschiedung im Fahrstuhl verschwand.
Ich steige aus der Dusche, der Dampf strömt mit mir aus der Kabine in den Raum. Ich trockne mich ab, das Handtuch kratzt auf meiner Haut. Schnell schlüpfe ich in meine Unterwäsche, dann fahre ich mit einer Hand über den beschlagenen Spiegel. Ich schlucke.
Die Ringe unter meinen Augen sind dunkel wie reife Pflaumen. Ein wenig habe ich zugenommen, was gut ist. Jetzt sehe ich wenigstens nicht mehr wie eine Verhungernde aus, meine Rippen zeichnen sich nur noch leicht unter meiner Haut ab, wenn ich mich bewege.
Schnell wende ich meinen Blick ab und tappe aus dem Bad zum Kleiderschrank. Er ist voll, ich besitze mehr Kleidungsstücke als je zuvor. Das Requiem versorgt uns damit, wie auch mit Essen, anscheinend hat es genug Ressourcen, um uns zu unterstützen, obwohl wir nichts beitragen. Carter hat erwähnt, dass viele namhafte Politiker Mitglieder des Requiems sind und hohe Summen an Kapital zuschießen, ohne das gewisse Aktionen unbezahlbar wären.
Die meisten meiner Sachen hat Neptune ausgesucht, ich habe nur anprobiert und auf seinen Geschmack vertraut. Verwundert über meine mangelnde Freude, die ein Mädchen beim Einkaufen seiner Meinung nach an den Tag legen sollte, hat er es ausgenutzt, um mir Kleidung aufzudrängen, die mir wahnsinnig gut stehen würde. Seiner Meinung nach.
Zwischen all den Kleidern krame ich nach meinen Lieblingsjeans, hellblau verwaschen, und nach einem grauen, weiten T-Shirt. Hätte ich bei unserem Shoppingtrip etwas zu sagen gehabt, bestünde meine Garderobe bloß aus diesen Shirts.
Meine Haare kringeln sich wegen der Feuchte, und ich verziehe das Gesicht, als der Versuch, sie durchzubürsten, Stiche durch meine Kopfhaut jagt.
Dann liege ich auf dem Bett. Weil ich nichts anderes zu tun habe, außer auf den Geruch von Nudeln zu warten, der sich nach fast einer Stunde endlich unter der Tür hereinschlängelt.
Spaghetti in Butter geschwenkt. Was anderes bringt Neptune nicht zustande. Manchmal, wenn er gut gelaunt ist, klatscht er noch Ketchup oben drauf. Oder irgendeine andere Fertigsauce, die Dave im Supermarkt besorgt hat.
Mit einem langen Seufzen kämpfe ich mich in eine sitzende Position. Der Stoff der weißen Bettdecke kratzt an meinen Fingern, während ich mich in die Höhe drücke. Könnte ich doch einfach nur liegenbleiben. Schlafen. Aber ich muss essen. Damit wenigstens irgendetwas Spannendes heute passiert und man mich nicht in fünf Jahren mumifiziert zwischen den Laken findet. Obwohl es gar kein schlechter Gedanke ist, sich für immer im Bett zu verkriechen.
Gerade legen sich meine Finger auf die Türklinke, da verschwimmt mir die Sicht.
»Jeder hat eine Lieblingsband. Man kann nicht keine Lieblingsband haben. Also?«, fragt Neptune.
Ich gehe neben ihm her und zucke mit den Schultern. Ich war zwei Jahre von der Außenwelt abgeschnitten. Was erwartet er? Leider kann ich mich auch nicht mehr daran erinnern, was ich vor dem Krieg mochte. Vielleicht die Lieder, die meine Mutter beim Arbeiten manchmal gesummt hat? Mir wird warm und ich muss lächeln, bis mir klar wird, dass ich mich nicht mehr an die Melodien erinnern kann.
Mein Blick schweift zu einem kleinen Café, das wir passieren. Ein paar Leute sitzen in der warmen Sonne, sie werden von einem Kellner mit dunkelblonden Haaren bedient. Ich sehe ihm zu, wie er sicher das Tablett balanciert, den Rücken immer noch zu mir gedreht.
Und dann dreht er sich um.
Erst nach ein paarmal Blinzeln bin ich wieder zurück. Es dauert einen Moment, bis der Schwindel aus meinem Körper weicht.
Ich habe schon gedacht, ich hätte es verlernt, in die Zukunft zu sehen.
Gehofft, eher. Doch als sich mein Atem beruhigt, sehe ich die Bilder noch immer. Sogar die wärmenden Sonnenstrahlen kann ich noch im Gesicht spüren.
Doch die Sache ist – ich will keine Visionen mehr haben. Immerhin haben sie sich jedes Mal bewahrheitet.
Preston hatte uns – wie ich es vorhergesehen habe. Aber einiges konnte ich nicht vorhersehen.
Dass Cam eine Vision erzeugt. Von mir. Und von sich selbst. Hat es tatsächlich geschafft, zwei Visionen gleichzeitig zu erzeugen. Er hat die Kuppel aus Unsichtbarkeit aufrechterhalten und ein Bildnis von mir und eines von ihm erschaffen, die zusammen gegen Preston standen und er hat mich aufgehalten. Mich zurück unter den schützenden Schirm aus Gedanken geholt, ehe ich mich selbst opfern konnte. Und er hat uns alle gerettet.
»Denkst wohl, du bist was Besseres, was?«, spuckt Preston aus.
Die Crys aus Camerons Vorstellungsvermögen zuckt nicht mit der Wimper, geht nur auf ihn zu. Sie weiß, dass Stille Preston beunruhigt. Er hat es schon früher gehasst, wenn ihm nicht geantwortet wurde.
Mein zweites Ich geht immer weiter, schließt die Distanz zwischen Preston und ihr rasch.
»Bleib weg, du verdammtes Miststück!«, brüllt er und lädt mit einem einzigen, flinken Handgriff seine Pistole nach. Jetzt. Jetzt wird er richtig wütend.
Crys lächelt nur schwach, immer noch ihren Kopf hoch erhoben, als wären alle anderen weniger wert als sie.
Und dann erreicht sie Preston. Die anderen Soldaten blicken sich gegenseitig an, geben jedoch ihre resolute Haltung nicht auf. Auch sie haben die Pistolen angelegt und alle auf dasselbe Ziel gerichtet: mein Abbild aus Camerons Gedanken.
Prestons und ihr Atem berühren sich fast, als er in weißem Dampf aus ihren Nasen steigt. Ihre Stimme ist leise, kaum mehr als ein Flüstern, doch der Wind hat sich inzwischen gelegt, und wir hören jedes einzelne Wort.
»Denkst du …«, fängt