Der Doktor hat gemeint, ich soll an etwas anderes denken als an unsere Flucht. Versuchen, zu vergessen. Einfach leben. Aber wie kann man leben, wenn man schon einmal das Angesicht des Todes erblickt hat? Wie kann man je wieder ganz bei Sinnen sein?
Ich atme aus. Crys geht nach oben, zurück in ihr Zimmer. Ihre Gedanken verschwinden mit jedem Schritt. Die Schmerzen werden leichter, ich strecke mich, drehe mich auf die Seite. Der Schweißfilm auf meinem Rücken kollidiert mit der Kälte des Zimmers, und ich erschaudere. Wie kann mir gleichzeitig so kalt sein und so wahnsinnig heiß?
Meine Gedanken driften wieder weg von mir, werden überlagert von den Geräuschen in mir. Neptune träumt gerade seinen ständigen Wachtraum von einer besseren Zeit, von einem alten Leben, das er nie wieder zurückkriegen wird. Ich lausche seinen Gedanken lange. Carter ist bereits in seinem Büro und sehnt sich nach Kaffee. Cam verlässt gerade das Haus für einen kurzen Spaziergang. Er will Crys zurück.
Ich kenne dieses Gefühl. Ich kenne es nur zu gut. Tylers innerer Kampf überlagert langsam Neptunes ausklingenden Traum. Ich hasse es, Tyler zuhören zu müssen. Seine Gedanken schreien und sind wütend und halten sich in ihrem Hass nicht zurück. Es ist anstrengend. Die immer gleichen Tiraden aus Verleumdung ziehen Kreise und kommen trotzdem nie zurück an ihren Anfang. Ich lasse Tylers Gedanken über mich ergehen, bis auch er sich dazu zwingt, endlich aufzustehen.
Für einen kurzen Augenblick ist es still. Ich werde müde. Doch dann huschen weitere Wörter in meinen Kopf. So leise, dass ich zuerst glaube, mich verhört zu haben. Langsam wende ich meinen Kopf, um im Liegen aus dem Fenster zu sehen. Es ist noch stockdunkel, der Mond verschwindet langsam in den Schatten des Himmels. Crys kann nicht schlafen oder will es nicht. Ihre Gedanken werden kurz lauter, als sie nur wenige Meter von meinem Zimmer entfernt barfuß über die Treppen nach unten geht.
Und diese Gedanken sind genauso unschön wie die von Tyler – aber sie schreien nicht. Sie leiden still, hinterfragen sich selbst in einem Takt, der mich jedes Mal wieder in den Schlaf trägt. So ist es heute. Ihre Selbstzweifel drehen sich angenehm um sich selbst, ihre innere Stimme ist sanft und zaghaft und trotzdem zielgerichtet. Das Morphium wirkt. Ich drehe mich zurück auf den Rücken, beobachte, wie die Sonne aufgeht, und der Strom an Gedanken, der die meinen quert, versiegt erst, als meine Augen endgültig zufallen.
4
All thought, all desires,
That are under the sun,
Are one with their fires,
As we also are one:
All matter, all spirit,
All fashion, all frame,
Receive and inherit
Their strength from the same.
In Neglect
Crys
Ich sollte es nicht tun. Ich habe gewartet, bis Cameron das Haus verlassen, bis Neptune sich wieder in sein Zimmer verzogen hat – bis absolute Stille herrscht.
Es ist keine gute Idee – denn es kann sein, dass mir die Wahrheit nicht gefällt.
Ich war noch nie hier oben. Cams Zimmer liegt unter dem Dachboden, und ich zögere nur kurz, als meine Hand den Türknauf berührt. Noch habe ich nicht daran gedacht, dass Cameron abgesperrt haben könnte. Doch meine aufkeimende Sorge ist unbegründet, als ich nach unten drücke und die Tür mit einem leisen Ächzen nach innen aufgeht.
Ich lasse den Knauf los, verharre einen Moment an der Türschwelle. Sollte ich umkehren? Wäre ich klug, würde ich wahrscheinlich auf dem Absatz kehrtmachen und mich wieder in meinem Bett verkriechen.
Aber wer hat gesagt, dass man immer nur kluge Dinge tun darf?
Der erste Schritt ist noch unsicher. Ich setze den zweiten Fuß in den Raum, ziehe die Tür hinter mir zu. Das Zimmer ist nur spärlich eingerichtet. Unter dem dreieckigen Fenster steht ein niedriges Bett mit blauer, zerwühlter Decke, links daneben ein Schreibtisch aus Holz, gleich neben der Tür zwei Schränke.
Ich trete näher an den Schreibtisch heran, schiebe den knarrenden Stuhl zu mir und setze mich. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Pläne vom Feindesland, einen Zettel mit irgendwelchen geheimen Infos? Außer ein paar Stiften findet sich nur noch das Bild einer braunhaarigen, schönen Frau auf dem Tisch, das in seinem schwarzen Holzrahmen mit einer feinen Schicht aus Staub überzogen ist.
Langsam strecke ich die Hand aus, doch ich ziehe sie zurück, bevor ich den Rahmen berühre. Zweifelsohne ist es Cams Mutter. Ich weiß es, ohne dass er ihr ähnlich sieht. Ihre blauen Augen sind so viel heller, als Cams jemals werden können.
Da ist etwas in ihrer Haltung, das sie verrät – ein gewisser Stolz. Und obwohl ihre Augen sanft sind und ihr Lächeln wehmütig, erkenne ich so viel von ihr in Cameron. Ich lehne mich im Stuhl zurück und sehe mich um. Irgendwie dachte ich, dass sein Zimmer mehr einem Zuhause ähneln würde, aber außer ein paar schlampig zusammengelegten Jeans und einer Jacke auf einem weiteren alten Stuhl neben dem Bett erkenne ich kein Zeichen von Heimeligkeit.
Was jedoch angenehm ist: Das ganze Zimmer riecht nach ihm. Ich ziehe genüsslich den Duft in die Lungen, bevor ich die Schubladen nacheinander öffne. In den ersten beiden liegen nur eine Taschenlampe, ein paar Gutscheine für einen Supermarkt und die zerknautschte Ausgabe eines Gedichtbands von Robert Frost.
Bei der letzten Schublade muss ich mit Kraft an dem Holz ziehen, da sie sich etwas sperrt. Ganz bekomme ich sie nicht auf, aber der Spalt ist breit genug, um meine Hand hineinzustecken. Schon denke ich, dass diese Lade leer ist, doch dann streifen meine Finger über ein kühles Material.
Der Einband des Notizbuchs ist simpel, unspektakulär. Ich lasse die Blätter schnell über meinen Daumen fliegen und kann nur leere Seiten erkennen, doch dann schlage ich die erste Seite auf. Eine Liste. Ohne Titel, ohne Erklärung. Bloß eine Auflistung von Orten, daneben immer eine unterschiedliche Zahl an Strichen. Die Schrift ist immer dieselbe, aber die Worte sind mit wechselnden Stiften geschrieben worden. Alle haben jedoch eines gemeinsam: Als ich über die einzelnen Buchstaben streiche, fühlt es sich an, als hätte Cameron den Seiten Schmerzen zufügen wollen, so fest sind sie eingeritzt.
Ganz zum Schluss steht Moskau. Ich frage mich, was das alles zu bedeuten hat. Cam ist nicht nur der junge Mann aus dem Wald. Er ist mehr als das. Viel mehr, das verstehe ich erst in diesen Tagen. Und ich weiß nicht, ob mir das gefällt.
***
Cameron
Sie hat mich nicht kommen hören. Die Tür zu meinem Zimmer schließt nicht ganz, wenn man nicht weiß, dass man noch einmal fest nachdrücken muss, damit sie ins Schloss springt. Und jetzt stehe ich da, sehe sie mir an, wie sie über die Wörter streicht, die mein Herz zerfressen, und keine Ahnung hat, was sie bedeuten. Sie legt das Buch auf die Tischplatte und tastet noch mal in die Schublade, die nicht ganz aufgeht.
Langsam zieht sie die Kette heraus, an deren Ende ein geschwungenes C aus Weißgold hängt. Ein Kloß breitet sich in meinem Hals aus, aber ich weiß, dass ich nicht stumm weiter hier stehen bleiben kann.
»Ihr Name war Cynthia.« Crys zuckt zusammen, als sie mich hört und dreht sich zu mir um. »Und, hast du gefunden, was du gesucht hast?«, frage ich und versuche, jede Emotion aus meiner Stimme rauszuhalten. Ich schlendere auf sie zu, als wäre es keine große Sache, sie in meinem Zimmer beim Rumstöbern zu erwischen. Ihre Wangen sind gerötet, sie sieht mir fest in die Augen. Ich kann fühlen, wie mein Mundwinkel zuckt. Doch ich will nicht lächeln, nicht mal den Anschein eines Grinsens zulassen, selbst als sie versucht, nicht peinlich berührt zu wirken.
»Nein. Ich war auch noch nicht fertig.«
»Wieso schleichst du dich in mein Zimmer?«, frage ich, während ich meine Jacke, die ich vergessen habe, über den Arm nehme.
Das Straffen meiner Schultern spannt meine Muskeln so fest an, dass sie brennen. Ich muss gehen, aber ich will Crys nicht einfach ohne eine Antwort wegschicken.
Dann stiehlt sich