Neben ihr stand als Taufpate Onkel Harre, der mit der Haltung eines Jünglings den geistreichen Kopf trug, an dem fast nur die dichten, ergrauenden Haare den Beginn des Alters anzeigten. Er war jetzt völlig von der Heiligkeit der Handlung hingenommen und stellte einen würdigen, christlichen Paten dar; ließ sich sogar willig von dem perorierenden Pastor zu Tränen rühren und versicherte uns hernach begeistert, daß es doch etwas Schönes um die kirchlichen Zeremonien sei, die man keinesfalls antasten dürfe, selbst wenn das Dogma noch mehr seines Ansehens beraubt sein würde als jetzt. In der allgemeinen Lustbarkeit vergaß ich der Sorge, die ich stet und starr wie ein schwarzes Steinbild in unserem Hause sitzen wußte. Jetzt aber, obwohl das alles nun schon lange der Vergangenheit angehört, schnürt es mir das Herz zusammen, wenn ich mir meinen Vater vergegenwärtige, wie er sich zwischen den Feiernden, gefeiert als eines der Häupter unserer Familie, bewegte. Wer ihn gut kannte, konnte ihm das verborgene Leiden ansehen, doch nahm er lebhaften Anteil am Gespräch und plauderte besonders mit Galeiden, wenn es ihm gelang, sich neben sie zu setzen und ihre Hände zu streicheln. Es gab ein rechtes Phäakenmahl mit fetten Braten, edlen Weinen, Behaglichkeit, Gespräch und Erzählung. Auch der Sänger fehlte uns nicht, da meine Mutter ein Taufgedicht gemacht hatte mit ungeheuerlichen und ganz unmöglichen Reimen und voll erstaunlicher Einfälle, das sie selbst vortrug, häufig von unserem jubelnden Entzücken unterbrochen. Ich glaube, daß sie dabei aufstand, und es ist mir, als hätte sie ein Kleid von rosig fliederartiger Farbe getragen; sie sah strahlend und hell aus wie das Glück. Ohne Zweifel war sie die Schönste von allen, obwohl sie nicht der jüngsten Generation angehörte. Was war es für ein Schwirren und Lachen und Rauschen: lauter Leben und Zukunftsfreude. Onkel Harre hielt eine Tischrede um die andere, wozu er eine vorzügliche Gabe besaß, so daß er nie damit langweilte; denn schon die Art und Weise, wie er seine reichlich zufließenden Einfälle hervorsprudelte, war erfrischend und stets belebend. Er redete auch den jüngsten Ursleuen, sein Paten- und Enkelkind, an in einer Weise, die mich besonders belustigte; er sagte ungefähr folgendes: »Dieses Kind, in welchem seine Tante Galeide schon jetzt die merkwürdigsten Eigenschaften entdeckt hat, die die vortreffliche Erziehungsmethode seiner Mutter ohne Zweifel zu noch größerer Merkwürdigkeit entfalten wird, dies Kind hat in unserer Familie eine hohe Aufgabe zu erfüllen. Ich vergleiche eine Familie mit einem gemusterten Gewebe, sagen wir schlicht weiß mit goldenen oder bunten Tupfen, die in gewisser Entfernung voneinander abstehen, oft in größerer, oft in geringerer. Nehmen wir als ein Beispiel die Familie der Hohenzollern: Da war Friedrich der Große ein dicker, goldener Tropfen; dann kam der schlichte Wollfaden Friedrich Wilhelm II. und III. und so weiter und so weiter. Das Gewand der Ursleuen so recht funkeln zu sehen, das wäre mir eine Freude gewesen, aber obwohl wir in unserem Zeitalter das Häßliche und Anstößige einer ungebrochenen weißen Fläche erkannt haben, bieten wir doch dem Auge gerade jetzt nichts als eine solche. Jawohl, ihr da haltet euch alle für goldene Tupfen, ich halte euch für nichts als wollene Fäden. Da ist mein Bruder Ludolf. Du hättest etwas werden können! Du bist in großen Verhältnissen angelegt! Aber dein Unstern machte dich zum Kaufmann. Ja, lebten wir in den vergangenen Jahrhunderten, da hättest du ein Fürst der Hansa sein können, mit Königen Bündnisse schließen und mit deinem Beutel den Reichstag meistern können. Oder du hättest neue Pfade auf dem Meere gesucht und die Welt belehrt, indem du dich bereichertest. Nun aber hockst du in einem geschmacklosen Arbeitszimmer vor einem stillosen Schreibtisch und schwitzest Angstschweiß und jetzt, anstatt dich zu schämen, sitzest du mir gegenüber und lachst und kosest mit deiner Tochter wie ein sentimentaler Pole. Du bist, wenn ich dich historisch abschätzen will, in eine Reihe mit dem Kaiser Wilhelm I. zu setzen, von dem mit gewaltigen Lettern auf Klios Tafel gegraben ist, daß er verstand, sich den rechten Minister zu wählen. So bleibt dir der Ruhm, eine Frau davongetragen zu haben, die im Gewebe der Olethurms mit ihrem Vater die Goldtupfen bildet, die uns leider mangeln. Ja du, Neffe Ludolf der jüngere,« sagte er nun, indem er sich an mich wandte, »sieh mich nicht so herausfordernd an. Du bist, wie Elias, nicht besser als deine Väter. Was hattest du an deinem dreiundzwanzigsten Geburtstage im Tempel des Ruhmes aufzuhängen oder anzuschlagen? Junge, du hast Geist, Verstand, Talent und manches Gute und Schöne, das in dir durcheinanderrennt wie lauter Rinnsale, Quellen und Bäche; aber nie vereinigt es sich zu einem mächtig rollenden Strom oder in einen See, in dem die Gestirne, wie Goethe sagt, ihr Antlitz weiden. Deine Schwester Galeide, auf die hoffe ich noch; aber sie ist noch unausgewachsen, und es kann noch sowohl ein Goldpunkt oder auch ein Wollfaden aus ihr werden. Du aber, mein eigener Sohn, Ezard, hast mich am grimmigsten getäuscht. Dein meisterhaftes Gesicht verbürgte sich für die Erfüllung meiner grenzenlosen Erwartungen. Gott weiß, was es bedeuten mag. Hättest du das nicht, so müßte ich dich einen Philister nennen. Wirst du jemals ein Abenteuer bestehen? Jemals eine Tollheit verüben? Jemals etwas tun, worüber das Volk sich bekreuzigt? dann aber sanfter hinzufügt: es ist nicht seine Schuld, es liegt ihm im Blute, er ist ein Ursleu. Nein, ohne Sang und Klang würdest du vorübergehen, wenn du nicht als der Vater deines Sohnes Aussicht hättest, dich denkwürdig zu machen.« Hiermit ging mein Onkel auf den kleinen Harreke über, der die Zielscheibe seiner Rede war, und von dem er nun ein phantastisches Zukunftsebenbild entwarf.
Möge das sich erfüllen, was mein Onkel damals im Scherz und Übermut sagte, das wenigstens, was seinen leichten Worten an ernstem und bedeutendem Sinne zu Grunde lag; möge der Knabe den Namen und die Art unserer Väter in die künftige Zeit hinüberführen. Damals brannte noch der Ehrgeiz in mir, daß ich mich wohl tüchtig fühlte, selbst ein Zierat in dem Gewebe unserer Familie zu sein; erst alternd begreift man jenen Unsterblichkeitsglauben, in dem man sich selbst entsagend aufgibt und den Nachkommenden die Stätte bereitet. Mögest du leben und wirken, Harreken Ursleu! Mögest du derer gedenken, die vor dir waren, in deren Asche du wurzelst und gedeihst. Mögest du den Geschichten ihrer Leiden und Kämpfe gerne lauschen und Mut daraus lernen, daß du gern und gut auch deine Schlachten schlägst, die die Zeit und das Schicksal dir bringen werden. Besuche ihre Gräber und bepflanze sie, und dann geh und sorge, daß die Menschen deinen Namen mit Ehrfurcht nennen; es ist der ihrige, und sie geben ihn dir wie der fallende Held das Schwert seinem Sohne. Da tropfte es von Blut. Raste du nicht, bis es blank und blitzend in der Rüstkammer hängt bei andern guten Waffen! Sei gesegnet, Harreken Ursleu!
XII
Seit der Taufe des kleinen Harre feierten wir kein Familienfest wieder, keine Zusammenkunft, mein' ich, die wahrhaft festlich gewesen wäre. Denn obwohl die Sorge uns damals schon angefaßt hatte, so trug sie doch noch ein jeder vor dem anderen verborgen, und wenn sie auch der eine vom anderen wußte, so hatte doch noch keiner davon gesprochen, und deshalb konnte man auf Stunden so tun, als wäre nichts gewesen. Auch waren wir damals noch friedfertig untereinander und fühlten uns als eine Einheit, so daß, gerade wenn wir beisammen waren, das Gefühl unseres Zusammenseins tröstlich und ermutigend war; denn als Ganzes waren wir ein trutziges Häuflein, das sich den Anprall eines widrigen Geschicks aufzufangen wohl getrauen durfte. Nun aber fiel unserm Trupp ein neuer Angriff in den Rücken und trieb ihn auseinander, plötzlich, ungeahnt, daß kein Schirm und Schild zur Abwehr da war.
Wie der kleine Harre gesund weiterwuchs, faßte er eine herzliche Liebe zu Galeiden und sie zu ihm, so daß sie alle andern Menschen und Dinge darüber vernachlässigte. Denn das war ihre Art: wenn sie einmal etwas mit Neigung ergriff, so geschah es mit einer Kraft und Ausschließlichkeit, die etwas Hinreißendes an sich hatten und alles überwältigten. Der kleine Harre wachte und träumte von ihr, ließ sich von ihren Augen leiten, an denen doch eigentlich nichts Besonderes zu sehen war, lachte, wenn sie kam, und ließ die Mundwinkel erbärmlich hängen, wenn sie ging. Lucile duldete das hauptsächlich deshalb ohne Eifersucht, weil es Galeiden betraf, die sie vergötterte, dann aber auch, weil sie das kleine Mädchen, das sie hernach zur Welt brachte, dem Knaben vorzog. Vielleicht hätte sie ihn lieber gehabt, wenn er nicht Harre geheißen hätte, nun aber betrachtete sie