Auf der Kommode stand noch immer ein geputztes Weihnachtsbäumchen, freilich fast ohne Nadeln.
„Es ist doch Frühling draußen“, wiederholte er dringlich.
„Na – dann ist es doch höchste Zeit“, sagte sie. Und sie, die bisher nie gelitten, daß das Bäumchen entfernt wurde, setzte nun ärgerlich hinzu: „Raus mit dem kahlen Ding, wie sieht denn das aus!“
„Den Brief hast du ja noch jarnicht anjesehen“, sagte Albert, während er das klägliche Tannenbäuchen rasch vor die Tür stellte.
„N’n Brief, wo ist er denn?“ Als sie ihn gelesen, sagte sie mit einem tiefen Aufatmen: „Er will herkommen! Ach, Albert, mir wird so anders, wenn ich dadran denke! Mein Kopf ist doch immer noch ’n bißchen schwach und verwechselt die beiden miteinander.“
„Das kann mir auch passieren – und mein Kopf ist nicht schwach“, tröstete Albert, „solche Ähnlichkeit jibt’s sonst bloß bei Zwillinge.“
Er war gegangen, und Rieke saß da im Frühlingssonnenschein, der jetzt die ganze Stube füllte. Im kahlen Geäst der Obstbäume schmetterten die Finken, die Sperlinge flogen, lange Strohhalme im Schnabel, an der Hauswand empor zu den Dachbalken, wo sie ihr Nest bauten, und aus dem Hühnerstall hinten im Garten klang das lebensfrohe Krähen des Hahnes.
Rieke war aufgestanden, nach der Kommode gegangen, kramte im obersten Schubfach. In einem Kästchen fand sie das, was sie suchte: Ein paar Briefe, mit einem blauen Bändchen kreuzweis zusammengeschnürt. Sie wog das Päckchen gleichsam in der Hand, ging zum Kachelofen und legte es auf die noch glimmenden Torfstücke. Endlich, aber erst nachdem sie in das Feuerloch geblasen, loderte die Flamme jäh auf, langsam verkohlte dann das Papier.
Als sich Rieke erhob, stand Minna in der Stube, Eimer und Besen in der Hand, um aufzuräumen. „Soll denn noch anjelegt werden?“ fragte sie verwundert.
Rieke legte ihr die Arme um den Hals, drückte sie an sich. „Nee doch, nee! Ach, nu hab’ ich alles von ihm verbrannt, jetzt ist der schöne Traum zu Ende!“
Minna stand steif wie ein Plättbrett da. „Wenn’s man wahr ist ...“
„Ja – es ist wahr, denn mir ist so leer ins Herz. Liebe, olle Minna, was hast du mit mir durchmachen müssen und bist mir treu jeblieben, die janzen Jahre!“
Am nächsten Sonntag schritt Walter, einen in Seidenpapier geschlagenen Veilchenstrauß in der Hand, über das Sumpfgelände der Wiesen der einsamen Villa zu.
Er kam in eine Atmosphäre der Erwartung – alles bewillkommnete ihn: Die betroffene, respektvolle Art des alten, hageren Mädchens, das ihm die Gartentür öffnete, der festlich gedeckte Kaffeetisch, die süßduftenden Hyazinthen, der behaglich-warme Raum.
Und da tat sich die Tür auf. Rieke kam, wie eine automatische Figur, mit kurzen, abgehackten Schritten über die Schwelle, angetan mit einem starren, weißseidenen Schleppkleid. Bis in die Mitte der Stube trat sie, bis unter den Kristallkronleuchter. Hinter ihr, im Türrahmen, tauchte für einen Augenblick Albert auf, verschwand aber sofort wieder.
Walter, verwirrt von dieser Erscheinung, trat zögernd näher, bot ihr mit einer Verbeugung den Veilchenstrauß. Ach, es war ihm entsetzlich, zu sehen, wie in dem blassen Gesicht der bejahrten Frau eine rote Glutwelle aufflammte, ihre Augen sich weiteten, wie sie dann, überwältigt von ihrem Gefühl, in die Knie sank: „Herbert!“
Doch im nächsten Augenblick hatte sie sich schon wieder erhoben, sog tief den Veilchenduft ein, lächelte schmerzlich.
„So kam er immer – er! Ich danke Ihnen, entschuldigen Sie man – Sie erinnern mir so sehr an ihn – oder bist du’s doch, Herbert?“
Der Blick ihrer großen, schönen Blauaugen war der einer Entgeisterten. Scheu berührte sie Walters Arm, wich erschauernd zurück, nahm sich aber gleich wieder zusammen. Und dann klang ihr girrendes Lachen, triumphierend sagte sie: „Wie jlücklich bin ich doch, ich hab’ jeliebt und bin jeliebt worden!“ Und mit vertraulichem Flüstern setzte sie hinzu: „Wenn jetzt mein Bruder kommt, nehmen Sie ihm nischt übel, er ist nämlich ein bißchen ...“ sie tippte sich auf die Stirn.
Da war Albert schon, auch er hatte sich fein gemacht, trug einen langschößigen, schwarzen Rock, karierte Hosen und steifes Oberhemd. Er machte heute einen sehr reputierlichen Eindruck, falls man ihn nur in seiner Wochentagsaufmachung kannte.
„Na ja, Herr von Eschwege, das wird Ihnen heute hier wohl ein bißchen komisch vorkommen. Aber wollen wir uns nicht setzen? Hier, der Platz wartet schon lange auf Ihnen.“
Er hatte hastig gesprochen, abwechselnd den Blick auf Walter oder Rieke gerichtet. Und was er gewollt, erreichte er, die Schwester paßte sich sofort an, wurde ganz hausfraulich. Goß behutsam, daß kein Fleck auf der Spitzendecke entstehen konnte, den Kaffee in die Tassen, schnitt den Napfkuchen an, reichte herum. In ihren Zügen war tiefe Befriedigung – ihr Traum hatte sich erfüllt: Da saß er, der Unsichtbare – den nur sie allein immer gespürt.
Albert hatte Walter ein Zeichen gemacht, die Schwester, deren Blicke unausgesetzt auf dem Gaste hafteten, nicht weiter zu beachten. Aber jetzt fragte Rieke: „Sie wissen, daß Sie jemandem sehr ähnlich sind, der meinem Herzen sehr nahe gestanden hat, was ist aus ihm geworden?“
Da Albert ihm ermunternd zunickte, sagte er: „Onkel Herbert ist für uns verschollen, wir nehmen an, daß er längst tot ist ...“
„Tot! Und ich lebe noch immer – wozu lebe ich noch – wozu denn – wozu? Würde er mich hassen – verachten – mir untreu sein – es wäre nicht so schlimm wie das!“ schrie sie auf.
„Ach was, Rieke, sei froh, daß du labundig bist – totsein kannste noch lange. Sieh dir hier sein Ebenbild an und sei vergnügt!“
„Tot – tot – tot!“ sie weinte bitterlich, das Taschentuch vor dem Gesicht.
„Sterben müssen wir alle, Rieke! Und ich sage jeden Tag: ‚Erde uff und rin!‘ Aber nun wird’s doch Frühling, und dann ist nu hier der junge Mann, sozusagen ein Ableger von deinem Herbert. Und wenn er dir auch nicht heiraten wird, kannste ihm doch jut sein. Und du weißt doch, was du alles mit ihm vorhast. Also – hör’ auf mit die Heulerei, sonst verjraulste ihn noch und er kommt nie wieder!“
Sie bezwang sich gewaltsam, schluchzte aber immer wieder jäh auf.
Albert hatte Walter ins Knie gekniffen, daß er sich ihm zuwenden sollte. Jetzt sagte er: „Ja, das war ein Winter, so’n strengen haben wir lange nicht jehabt! Nu kann ich bald wieder auf die Jagd gehen, jetzt kommen sie raus, die Käfer und Schmetterlinge. Andere sammeln Briefmarken und Münzen, ich nu wieder Insekten. Janz wissenschaftlich betreibe ich das, werde Ihnen mal nachher bei mir drüben meine Sammlungen zeigen; hat sojar schon drüber in die Zeitungen jestanden. Kennen Sie den ollen Keiter in das kleine Haus bei die Nicolaikirche?“
„Nein!“
„Dann haben Sie auch nie Schmetterlinge jesammelt, bloß bei dem jiebt’s Insektennadeln. Also, den kennen Sie nicht? Der hat ein Jeschäft mit lauter tote Tiere und Schädel und Jerippe. Bei dem tausch ich um, was ich hier auf die Wiesen fange – die jroßen, schwarzen Kolbenwasserkäfer und Schwalbenschwänze. Er gibt mir Ausländische dafür, und so hab’ ich meine Sammlung zusammenjekriegt – wie jesagt, es hat schon drüber in die Zeitungen jestanden!“
„Warum sind Sie nicht Naturforscher geworden?“
„Wollt’ ich ja – Vater wollte mir auch ’ne Expedition ausrüsten mit ’n eijenes Schiff, aber erst sollte ich das Einjährige haben. Ich bin aufs Französische Jimnasium jejangen. Jejangen, Quatsch! Jeden Morjen bin ich von unse Villa in Schöneberg mit ’nem Ponnyjespann in ’nen kleinen Korbwagen hinjejondelt, Jochen man bloß als Bejleitung. Rieke, nu trink doch auch, und jieß uns noch ’ne Tasse ein, nehmen Sie sich doch Kuchen, Herr von Eschwege, wozu ist er denn da!“
„Na, und?“ ermunterte