Und dieser Anblick brach das Schweigen, das eine lange Zeit zwischen ihnen geherrscht hatte. Er erinnerte sie an den unvergesslichen Abend vor zwei Jahren, wo sie auch so an einem Strande miteinander heimgeschritten waren, den anderen voraus, wo zum ersten Male ihre Herzen Worte fanden; liebe Erinnerungen wurden wach, längst Vergangenes lebte auf.
„Und ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, dass wir noch einmal so miteinander wandern, dass Sie aus Berlin zu uns zurückkehren würden!“
„Ich wollte auch nicht wiederkommen,“ sagte er in dem ruhigen Ernst, der seiner Sprechweise eigen war, „ich sah unsere Sache, nachdem Ihr Herr Vater diese unversöhnliche Stellung gegen mich eingenommen, so aussichtslos an, dass ich mir — seien Sie mir nicht böse, aber ich muss jetzt unbedingt offen sein — allen Ernstes vorgenommen hatte, zu vergessen; nein, das ist das richtige Wort nicht, aber zu verschmerzen, was zu ändern nicht in meiner Macht stand. Ich habe es versucht, ein ganzes Jahr lang versucht mit aller Energie, die mir zu Gebote stand — und habe es doch nicht gekonnt.“
Er suchte Gerdas Antlitz, aber die hatte die Augen tief zu Boden gesenkt; er sah nur einen leisen Umriss des schönen Profils und das kleine rotglühende Ohr.
„So bemühte ich mich nun in aller Stille um eine Versetzung nach Kronburg, wo gerade die Stelle des jüngsten Staatsanwalts frei geworden. Ich hatte Glück und packte meine Sachen, sowie ich der Ernennung sicher war, um die wenigen Wochen, die ich noch bis zum Antritt frei hatte, hier in Seewald zu verleben.
Aber wozu das alles? werden Sie fragen, weshalb bin ich gekommen, wo ich so wenig zu hoffen habe?! Nicht etwa, als ob ich erwartete, das Herz Ihres Herrn Vaters nach meiner Beförderung zum Staatsanwalt im Fluge umzustimmen. Dazu müsste ich mich besser verstellen können, als ich es in Wahrheit vermag, müsste lernen, mich in ihn zu fügen, und das kann ich nicht. Nein, so gerne ich es auch möchte, Ihrethalben, ich kann mich in diese Willkür nicht finden, die nur den Menschen schätzt, den sie abhängig sieht von der eigenen Gnade und Güte, ich kann meinen Lebenslauf nicht modeln nach seiner Laune. Dennoch gebe ich nichts verloren, wenn nur — wenn wir nur, Gerda, dieselben bleiben, unverändert und treu in unserem Wollen, mag um uns vorgehen, was da wolle!“
„Ich bin dieselbe geblieben vom ersten Tage an bis heute und werde dieselbe bleiben für alle Zeit.“
„Ich danke Ihnen!“ rief er aus, und ein Jubeln und Jauchzen klang durch diese ernste Stimme, wie es noch nie ein Mensch aus ihr gehört. „Und nun Ihre Hand, endlich einmal wieder Ihre liebe kleine Hand — nein, den Handschuh müssen Sie ausziehen, ich will sie wieder in der meinen halten, wie so manches schöne Mal. So ist es recht! Und nun im Angesicht desselben Meeres, das unsere ersten Liebesworte gehört, schliessen wir das Schutz- und Trutzbündnis unserer Liebe für alle Ewigkeit.“
Ihre Hände hielten sich fest geschlossen, ihre Augen leuchteten ineinander, lange Zeit. Die Dämmerung hatte zugenommen, nur das Meer glühte noch im Abendgolde. Weit aber über die dämmernden Küsten hinweg sah man in der Ferne den schlanken Rathausturm der grossen Stadt und unmittelbar hinter ihm, noch gewaltiger in seiner trutzigen Kraft, den viereckigen Turm der alten Pfarrkirche, der, obwohl er ohne Spitze war, über seine Umgebung riesengleich hervorragte, wie hingestellt zum Schutze des Meeres und seiner schönen Küste.
Sie hatten den beschwerlichen Strandweg verlassen und waren über die geebnete Promenade, die oberhalb desselben dem Kurhause zuführt, auf den Seesteg hinausgetreten.
Mit einem Male blieben sie stehen, trotz des eifrigen Gespräches, in das sie vertieft waren.
Unter ihnen, so dass sie genau sehen konnten, ohne selbst gesehen zu werden, bewegte sich eine Gestalt, so mager, dass sie sich wie ein Schattenriss vom weissen Sande abhob; der kränkliche Körper auf Beinen ruhend, die selbst für dies geringe Gewicht zu schwach gebaut schienen, der Hals auffallend lang und dürr, fast hinanreichend bis an die wenig ausgebildeten Ohren, die weit abstanden und leicht verkrüppelt schienen.
War es eines Kindes Gestalt?
Dazu war sie in den einzelnen Formen zu entwickelt, besonders in dem Ausdrucke des eckigen Kopfes. Eines Erwachsenen? Dazu wollte ihr Gebaren nicht passen, gerade jetzt nicht, wo sie sich damit begnügte, kleine Hölzer ins Wasser zu werfen, und der ganze schwächliche Leib schwankte und zappelte und zitterte vor Freude, sowie eines derselben, von den Wogen zurückgeworfen, dem Strande wieder näherkam.
Mit einem Male wandte sie schwerfällig das Antlitz, ein Antlitz mit schüchternen, blöden Zügen, in deren Faltenschrift eine ganze Geschichte von Krankheit und Leid zu lesen stand.
Und dennoch — aus diesem Antlitz, so hässlich es war, sprach eine so rührende Hilflosigkeit, aus den grauen traurigen Augen eine so bewegende Treuherzigkeit, dass diese Erscheinung, weit enfernt, abzuschrecken, das ganze Herz voller Teilnahme und Mitleid gewann.
Und solch ein Herz voller Teilnahme und Mitleid lag in den Augen einer weiblichen Gestalt, die, lässig in den Sand gelegt, keinen Blick von ihr verwandte.
Der schlanke Körper, dessen reife Formen in der liegenden Stellung scharf zum Ausdruck kamen, umhüllt von einem etwas fadenscheinigen, aber sauberen schwarzen Kleide, die bläulich schimmernden Haare glatt auf dem Kopfe gescheitelt. Das Gesicht blass, die Züge nicht regelmässig gebildet, aber fein geschnitten und belebt von dem Ausdruck einer Reinheit, der unwiderstehlich anzog.
Sie hatte sich erhoben und war an den Knaben herangetreten. Sie schien ihm zuzureden, mit ihr nach Hause zu gehen. Aber er musste noch keine Lust dazu verspüren, er nahm ihre weiche, volle Hand zwischen seine dürren Finger, er bat sie so inständig, sein treuherziges Auge schaute so flehend zu ihr empor, sie konnte nicht widerstehen, sie lächelte und gab nach. Sie suchte einige abgeglättete Steine vom Strande auf und warf sie mit geübtem Kunstgriff auf das Wasser, dass sie einige Male über die stille Fläche dahintanzten. Der Kleine zappelte und jauchzte vor Vergnügen. Auch sie lachte. Ein Wohllaut lag in diesem Lachen, das in seltsamem Gegensatz zu dem meckernden, stossenden Lachen des Knaben stand.
Eine frische Brise zog über das Wasser, die Abendkühle machte sich bemerkbar. Sie griff nach dem kleinen Mantel, der am Strande lag, und zog ihn mit ängstlicher Behutsamkeit über die schmalen Schultern.
„So, mein Kleinerchen, damit wir uns nicht erkälten. Und nun nach Hause zur Mama!“
„Will nicht zu Mama, will nicht — will bei dir bleiben — nur bei dir!“ stiess der Knabe hart hervor.
Sie hatte es leicht, ihn zu beruhigen. Mit sanfter Bewegung löste sie seinen Arm von ihrem Leibe und nahm ihn bei der Hand. Dann wandte sie sich zum Gehen.
In diesem Augenblicke begegnete ihr Blick Bolkows Auge, der immer noch mit Gerda in stummer Beobachtung an das Geländer gelehnt stand.
Sie schien zu empfinden, dass sie längere Zeit diesen forschenden Blicken ausgesetzt gewesen; eine leise Röte flammte über das blasse Antlitz, dann ging sie, so schnell wie es ihr Begleiter und der dicke Sand erlaubten, der Promenade zu, ohne einmal den Blick zu wenden.
Auch über Bolkows Züge war eine Bewegung geglitten, so merkbar, dass sie Gerda nicht entging.
„Kennen Sie das Mädchen?“ fragte sie.
„Nein, ich kenne sie persönlich nicht, aber es ist heute das drittemal, dass ich sie sehe. Das erstemal sah ich sie vor einigen Jahren auf einer Reise in Capri. Sie war genau gekleidet wie heute und hatte den Knaben an der Hand wie eben jetzt. Ihr Bild blieb mir unvergesslich; es liegt etwas Eigentümliches in diesem Gesicht, finden Sie nicht auch? Dann sah ich sie wieder gerade an dem Tage, als ich in Berlin einzog. Sie war die erste bekannte Gestalt, die ich dort sah, und wieder war sie gekleidet wie eben und begegnete mir in genau demselben Aufzuge. Und heute — eben bin ich hier angekommen, treffe ich sie ebenso wieder. Es ist das so seltsam, weil —“
„Weil? Sie wollten noch etwas sagen.“
„Weil jedesmal, wenn ich sie sah, etwas — doch nein, ich kann Ihnen das nicht sagen, es ist