Etwas anderes wäre nur im Horizont eines Verständnisses des Menschseins, seiner Eigenart und Würde, möglich, das nicht aus den Sciences stammt, sondern umgekehrt das Menschsein, seine Eigenart und Würde, als den Sciences vorgegebene Bedingung der Möglichkeit von deren Betrieb beschreibt, hinter die die Forschung und die Anwendung ihrer Ergebnisse nicht zurück und über die sie nicht hinauskommen, die sie vielmehr als diese ihre eigene Möglichkeitsbedingung nur entweder achten oder missachten können. Auch solches Wissen über die universalen Bedingungen des Seins und Zusammenlebens von Menschen werden in unserer Gegenwartsgesellschaft kommuniziert – nämlich in Gestalt der aus dem Sich-selbst-Erleben-im-Zusammensein-mit-anderen im lebensweltlichen Alltag stammenden vorwissenschaftlichen Welt- und Lebensgewissheit der Menschen und dann (in meinen Augen besonders eindrucksvoll) in den reflexiv-philosophischen Beschreibungen der menschlichen Grundsituation in Phänomenologie und Pragmatismus (sowie in der ihnen methodisch folgenden theologischen Fundamentalanthropologie). Hier überall kommt das Menschsein als währendes Existieren (Ihm-selbst-gegenwärtig-Sein) von leibhaft-innerweltlichen Personen in der ursprünglichen Einheit des personkonstitutiven asymmetrischen Gefüges von Selbst-, Umwelt-, Welt- und Ursprungsbezogenheit in den Blick, so dass die Herausforderungen und Möglichkeiten der Menschen, sich im Umweltverhältnis zu verstehen, realistisch, also entsprechend ihrem relativen Ort im Gesamtgefüge, wahrgenommen werden könnten. Aber diese Einsichten sind nie gemeint, wenn von unserer Gegenwartsgesellschaft als »Wissensgesellschaft« die Rede ist. Und das nicht von ungefähr, denn für ein solches Wissen vom Sein und Zusammenleben, also der Welt, leibhafter Personen als der Möglichkeitsbedingung für die Arbeit der sciences, kann eben nicht Wahrheit im Sinne von »wissenschaftlicher« Wahrheit, im Sinne von Wahrheit-aus-densciences, behauptet werden. Und genau deshalb hat dieses Element der praktischen Gewissheit in der »Wissensgesellschaft der Neuzeit«, weil und insofern diese sich als eine allein an Wahrheit-aus-den-Sciences orientiert, einen prekären Stand.53
Den teilt das Christentum.
3. Das Christentum in der Wissensgesellschaft der Neuzeit
3.1 Zunächst: Welches Christentum ist gemeint? Jedenfalls das gelebte, das jeweils das Leben von Einzelnen-in-Gemeinschaft ist.54 Nämlich von Einzelnen, denen
– nach Begegnung mit der in der christlichen Glaubensgemeinschaft (gleich welcher konfessionellen Prägung und organisatorischen Gestalt) kommunizierten biblischen, im Evangelium seine Spitze besitzenden, Sicht auf die Gegenwart von Welt, Zeit und Geschichte
– durch Erschließung eines neuen, erweiterten und vertieften, Blicks auf die eigene Lebenswirklichkeit etwas vom Sinn und von der Wahrheit dieses Zeugnisse aufgegangen ist,55 so dass sie sich (und anderen) eingestehen können und müssen: »Eia, vere sic est!«,56
– die sich dadurch in die Glaubensgemeinschaft hineinversetzt finden
– und nun im Lichte dieser ihrer nun christlich gebildeten praktischen Welt- und Weltursprungs- und -ziel(also Gottes-)gewissheit ihre je besondere Aufgabe im Zusammenleben, also im gemeinsamen Wollen und Wirken mit Glaubenden und Nichtglaubenden, durch die undelegierbare Eigenverantwortlichkeit ihrer individuellen Ziel- und Wegewahlen gerecht zu werden suchen.
Wie zahlreich diese Einzelnen sind, bleibe dahingestellt. Ich gehe aber davon aus, dass es sie gibt (mit der letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD).57
Ihre christlich gebildete Welt- und Gottesgewissheit macht diese Menschen zuerst und zuletzt zu Gliedern der weltweiten Gemeinschaft der Glaubenden. Das schließt ihre Gewissheit, Europäer und Deutsche, Polen, Ungarn, Franzosen etc. zu sein, nicht aus, relativiert aber diese nationale Zugehörigkeit auf die weltweite Gemeinschaft der christlichen Gewissheit.58 In dieser Selbst-, Welt- und Weltzielgewissheit sagt sich der Christ freilich nicht vom Gemeinwesen seines Heimatlandes los, sondern übt mit ihm kritische Solidarität: Zur Zeit und zur Unzeit nennt er handlungsleitende Sichtweisen des Menschen, seiner Welt und seiner Bestimmung, die er als unklar, abstrakt, unvollständig oder irrig durchschaut, als solche beim Namen, einschließlich aller darin eingeschlossenen Sichtschranken, wie vor allem der dominierenden Engführung des für das bestimmungsgemäße Zusammenleben leibhafter Personen erforderlichen handlungsleitenden Erwartungswissens auf Scienceprodukte. Im Kontext dieser dominierenden Fehlkonzeptionen der Gegenwartsgesellschaft als Wissensgesellschaft und gegen sie bekennt das gelebte Christentum in Wort und Tat seine konkrete Einsicht, dass die – nicht aus den Sciences stammende sondern ihnen vorgegebene – dauernde (währende) Gegenwart des Seins und Zusammenlebens von Menschen selber der Möglichkeitsgrund allen menschlichen Wissens (also gewissen Erwartens) ist, darunter auch des aus den sciences stammenden, und diesem seinen Platz im Zusammenhang des größeren Ganzen aller Gestalten des für Menschen möglichen und unverzichtbaren Wissens (gewissen Erwartens) zuweist (und es durch diese Platzanweisung »relativiert«).
Diese Stellung in der Wissensgesellschaft der Neuzeit behauptet das gelebte Christentum auf deren beiden Ebenen: auf der Makroebene (3.2) und auf der Mikroebene des Alltags (3.3) – und auf beiden Ebenen nicht ohne die Hilfe der Theologie und ihrer gewissheitsexplikativen Leistungen.
3.2 Auf der Makroebene ist die institutionelle Präsenz der Glaubensgemeinschaft in ihren unterschiedlichen Organisationsgestalten unverzichtbar. Stets kommt es darauf an, dass Verkündigung und Lehre der Gemeinschaft inhaltlich den Beitrag zu derjenigen fundamentalanthropologischen Debatte durchhalten, die mit dem Eintritt der biblischen Sicht von Ursprung und Bestimmung des Menschen und seiner Welt in Gottes Wollen und Wirken in die antike Wissensgesellschaft einsetzt, durch das altkirchliche Dogma ihre Konkretisierung und im Mittelalter ihre schulmäßige Entfaltung erfährt, deren für das nachmittelalterliche Europa maßgebende Neuauflage mit der Renaissance einsetzt und dann ein halbes Jahrhundert später durch die reformatorische Theologie intensiviert und zugespitzt wird, anschließend auch das faktische Zentrum des sich seit dem zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts verselbständigenden Diskurses der Philosophie neben der Theologie bleibt und nach der am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden wechselseitigen Befruchtung zwischen Philosophie und Theologie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine dreifache Grundeinsicht zunehmend klar hatte hervortreten lassen:
– 1. Die kritische Einsicht, dass mit und in ihrem eigenen Sein (dem realen Dauern der Gegenwart des Zusammenlebens leibhaft-innerweltlicher Personen) den Menschen alles Reale gegeben ist, das ihnen überhaupt zu-verstehen (zu begreifen und mitzugestaltenden) gegeben ist; vorbei an dieser Grundgegebenheit ist ihnen gar nichts (zu-verstehen) gegeben.59
– 2. Der elaborierte Begriff dieser Vorgegebenheit (also der Begriff der dauernden Gegenwart des Zusammenlebens von Menschen als leibhaften Personen) erfasst somit diejenigen transzendentalen Bedingungen, die den Menschen ihr Sich-selbst-Verstehen ermöglichen und zugleich unabweisbar zumuten. Sie sind also allen möglichen Vollzügen menschlichen Sich-selbst-Verstehens vorgegeben als der Möglichkeitsraum, hinter den keiner zurück und über den keiner hinaus kann.
– 3. Diese Welt-des-Menschen (dieses Dauern der Gegenwart des Zusammenlebens von Menschen) ist kontingent, das reale Exemplar möglicher anderer Welten, verweist also selbst auf die weltübergreifende Sphäre, in der sie als diese bestimmte durch die Macht über ihren Ursprung verwirklicht und zielstrebig erhalten wird.
An dieser Debatte hat die Theologie, nicht zuletzt die reformatorische, teilgenommen und ihr Ergebnis durch systematische Entfaltung der biblischen Sicht unserer Welt als Geschöpf des Gemeinschafts- und Versöhnungswillens ihres Schöpfers durch zwei Hinweise ergänzt:
– Erstens: Das Bild des Menschseins