Christentum und Europa. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTh)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783374058549
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vielversprechend scheint mir solch eine Zugangsweise im Blick auf unsere europäische Perspektive zu sein: Schlicht, weil sich das Forschungsgespräch über Phänomene situativer Existentialität ob ihrer anthropologischen Elementarität sehr viel leichter über nationale, kulturelle, disziplinspezifische und schulmäßige Grenzen hinweg führen lässt. Das gilt, auch wenn die damit verbundenen deskriptiv-hermeneutischen Analysekategorien, die methodischen Vorgehensweisen und Untersuchungsstandards sowie die zugehörigen Theorien, Therapien und Ergebniserwartungen in höchstem Maße divergent sein dürften. Denn um deren Klärung willen treten wir in der Theologie ja erst ein in das mindestens europaweite Gespräch mit Medizin und Naturwissenschaften.

       Das Christentum in der Wissensgesellschaft der Neuzeit 1

       Eilert Herms

      Vieles von den Beobachtungen und Hinweisen meiner Vorredner kann aufgegriffen, gebündelt und kommentiert werden, indem ich den von mir erbetenen Überlegungen zum »Christentum in der Wissensgesellschaft der Neuzeit« die Gestalt von drei Vorschlägen gebe:

      – einem zur Klärung des Sachbezugs der Rede von »Gesellschaft der Neuzeit«,

      – einem weiteren zur Klärung ihrer Bezeichnung als »Wissensgesellschaft« und

      – einem abschließenden dritten zur Klärung der Rede vom »Christentum« (Singular) und seiner Stellung in dieser »Wissensgesellschaft der Neuzeit«.

      Hier, in diesem dritten Vorschlag, kommt »das Christentum« explizit als Gegenstand meiner Betrachtung vor. Als eine theologische Betrachtung steht diese freilich selbst schon auf dem Boden des Christentums;2 und das gilt nicht nur für den dritten, sondern schon für den ersten und zweiten Vorschlag, also für die Thematisierung der Gegenwartsgesellschaft und ihres Charakters als Wissensgesellschaft. Zur theologischen Selbstreflexion des Christentums gehören auch diese Themen. Grund: die Tatsache, dass das Christentum durch seinen Ursprung – die Christusoffenbarung – als ein verstehendes Verhältnis zum Ganzen des für uns und unseresgleichen zugänglichen Realen konstituiert ist;3 und zu diesem Ganzen des Geschaffenen gehört eben auch das als »Gesellschaft der Neuzeit« angesprochene Reale sowie derjenige Aspekt dieses Realen, der gemeint ist, wenn sie als »Wissensgesellschaft« bezeichnet wird. Wie das christliche Leben ist auch seine Selbstreflexion in der Theologie ein perspektivischer Zu- und Umgang mit dem Ganzen des Realen. Darin, in dieser Perspektivität ihres Verhältnisses zum Ganzen des Realen, weiß sich das christliche Leben und die Theologie als der exemplarische Fall jedes menschlichen Verhältnisses zum erkennbaren Realen, das auch in allen seinen möglichen anderen Gestalten nur als ein je Perspektivisches real ist. Mit der Offenlegung der Perspektivität ihres Zugangs zum Realen tut die Theologie nichts anderes als auch jeden möglichen anderen Zugang zum Realen auf dessen jeweilige Perspektivität hin anzusprechen und zu deren Offenlegung einzuladen.4

       1. »Gesellschaft der Neuzeit«

      Seit ihrem Aufkommen im 15. Jahrhundert ist die Referenz der Rede von der »neuen Zeit«5 komplex.

      – Erstens meint sie die Gegenwart der Sprecher im Unterschied zu früheren »Zeiten« (aetates)6, also das, was dann Fichte7 das »gegenwärtige Zeitalter« nannte,8 und zugleich

      – zweitens die Gegenwart des menschlichen Zusammenlebens9 nicht in einer Herde, sondern einer societas: einer Gesellschaft,10 eben in der »Gesellschaft der Neuzeit«, will sagen: der »Gegenwartsgesellschaft«.11 Damit ist

      – drittens faktisch stets das Ganze dieses Zusammenlebens gemeint, wenn auch meist in wechselnder Fokussierung auf einzelne Aspekte: in Konzepten wie »Ständegesellschaft«, »bürgerliche Gesellschaft«, »säkulare Gesellschaft«, »pluralistische Gesellschaft«, »Industriegesellschaft«, »Marktgesellschaft«, »Konsumgesellschaft«, »Konkurrenzgesellschaft«, »Risikogesellschaft«, »Erlebnisgesellschaft« und neuerdings eben auch »Wissensgesellschaft«.

      Weil diese Konzepte jeweils »Gesellschaft« als Zusammenleben von Menschen thematisieren, sind sie alle (zumindest implizit) geleitet von je einer fundamentalanthropologischen Auffassung der universalen Bedingungen menschlichen Seins und Zusammenlebens, also von dem, was den Möglichkeitsraum des menschlichen Zusammenlebens ausmacht, eben: die »Welt-des-Menschen«. Das gilt auch für meinen Vorschlag zur Referenz der Rede von »Gegenwartsgesellschaft«. Die Sicht, die ihn leitet, ist folgende:

      Menschen, leibhafte Personen, existieren im Licht ihres dauernden (währenden) Gegenwärtigseins für sie selber, und das heißt im Licht ihres Erinnertseins für sie selber, welches (auf dem Boden und vermöge seines währenden Gegenwärtigseins für sie selber) einschließt ihr Sich-selber-Erwarten.12 Menschen erinnern und erwarten ihr ihnen dauernd gegenwärtiges (erschlossenes) eigenes Gewordensein und Im-werden-Bleiben im Lichte seiner Möglichkeiten – und zwar ihr Gewordensein und Im-werden-Bleiben durch ein Kontinuum radikalen und relativen Fremdbestimmtwerdens, das als solches die unabweisbare Zumutung von Selbstbestimmung (also des eigenen selektiven Verwirklichens eigener Möglichkeiten) begründet und einschließt. Somit vollzieht sich das Zusammenleben von Menschen in vier gleichursprünglichen Beziehungsdimensionen:

      – in ihrem Verhältnis zu sich selbst, d. h. zu ihrem eigenen leibhaft-innerweltlichen Personsein, das ihnen dauernd gegenwärtig ist als ihnen eigenverantwortlich durch sie selbst zu verstehen und mitzugestalten vor- und aufgegeben, also in diesem Sinne in ihrem »Selbstverhältnis«,13

      – im Verhältnis zur menschlichen und nichtmenschlichen Umwelt,

      – im Verhältnis zu dem real bestimmten Möglichkeitsraum ihrer durch Fremdbestimmung bedingten Selbstbestimmung, also im Verhältnis zu ihrer Welt (= Sphäre aller möglichen menschlichen Umweltverhältnisse) und

      – im Verhältnis zum Ursprung des Realseins dieser Welt, auf den diese selber vermöge ihres kontingenten Realseins verweist.14

      Nur in diesen vier Beziehungsdimensionen können menschliche Personen die Selbstbestimmung unter der Bedingung dauernden relativen und radikalen Fremdbestimmtwerdens, zu der sie sich bestimmt finden, vollziehen; und deshalb auch nur in der dauernden interaktiven Bearbeitung und Lösung von vier gleichursprünglichen Aufgaben des Zusammenlebens:

      – interaktive (genau: nur durch das Zusammenwollen und Zusammenwirken von leibhaft-innerweltlichen Personen erreichbare) Sicherstellung des Lebensunterhalts,

      – gleicherweise interaktive Sicherstellung der Interaktion gegen Störung durch Gewalt, sowie

      – kommunikative (die jeweils realisierten Möglichkeiten des Zusammenwollens und Zusammenwirkens festlegende) Unterhaltung von einerseits gemeinsamen Überzeugungen über die Wirkregeln, die im Werden der Bestimmtheit ihres Umweltverhältnisses herrschen,

      – und zugleich andererseits gemeinsamen Überzeugungen hinsichtlich des bestimmten Möglichkeitsraumes dieses Werdens, also hinsichtlich ihrer Welt (zur Identifikation ihres aktuellen Gewordenseins und individuellen Ortes innerhalb der Welt)

      – und hinsichtlich des Grundes von deren kontingentem Realsein (des Warums) und damit auch von dessen Ziel (des Wozu und Woraufhin des Dauerns ihrer Welt).15

      Diese vier Aufgaben sind auf Dauer gestellt und können daher nur in Institutionen gelöst werden,16 jede also jeweils nur in einer aufgabenspezifischen Ordnung und alle – wegen ihrer Gleichursprünglichkeit – nur in einer jeweils faktisch herrschenden Ordnung ihres omniinterdependenten Zusammenspiels. Diese Gesamtordnung kann, aber muss nicht in der Lebenswelt direkt erfahrbar sein, gibt dieser jedoch stets ihr spezifisches Profil. Somit ist zu unterscheiden

      – zwischen den verschiedenen Ordnungen der Interaktion