Christentum und Europa. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTh)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783374058549
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von den Sciences gebotene handlungsmachtsteigernde Erwartungswissen hinausgehen, als nicht wahrheitsfähig und in der Öffentlichkeit als private Ansichts- und Meinungssache: So schon alle Annahmen über Welt als den realen Möglichkeitsraum der asymmetrischen Wechselwirkung zwischen Kultur und außermenschlicher Natur, die für die Selbsterfassung der Identität von Interaktanten – Gemeinschaften und Einzelnen – unerlässlich sind,42 und erst recht alle praktischen Gewissheiten über Letztziel und Bestimmung von Welt und Mensch, also alle zielwahlleitenden Überzeugungen. Deren Realität und Wirksamkeit wird als eine rein subjektive (also psychologisch und sozialpsychologisch zu beschreibende) angesehen und ihre inhaltliche Bestimmtheit als das Resultat von (ebenfalls subjektiven) »Deutungen«.

      Gerade sie aber, diese inhaltlich bestimmten, zielwahlleitenden praktischen Gewissheiten über Letztziel und Bestimmung von Welt und Mensch, und keineswegs allein formale Regeln für die Respektierung der Willkür des einen durch die Willkür des anderen, fundieren – wie auch Kant schon wusste43 – den qualitativen Charakter des menschlichen Zusammenlebens, also sein materiales Ethos – und somit sind es genau diese Fundamente des materialen Ethos, deren Wahrheitsfähigkeit in unserer Gegenwartsgesellschaft zumindest zweifelhaft sind und die deshalb weithin einem öffentlich nicht mehr auskunftsfähigen und auskunftspflichtigen Belieben ausgeliefert bleiben.

      Dieser Engführung der Vorstellung von »Wissen« entsprechen auch die verschiedenen Weisen, wie in den Institutionen der Gegenwartsgesellschaft der Anspruch erhoben und realisiert wird, dass die Gegenwartsgesellschaft eine »Wissensgesellschaft« sei.44 Dafür vier Beispiele auf der Makroebene, jeweils aus der Perspektive verschiedener Grundfunktionsbereiche:

      Beispiel 1: Aus der Perspektive der Wirtschaft – These: Wir leben im Übergang »von der Industrie- zur Wissensgesellschaft«.45 Gemeint ist der Übergang zur Hervorbringung und Vermarktung industrieller Produkte unter Einbeziehung und Ausnutzung aller Möglichkeiten der Digitalisierung (Automatisierung, Datenspeicherung und -auswertung). Das wird in der Tat gesellschaftliche Veränderungen bewirken, setzt aber einfach die schon fast 200 Jahre alte Gewohnheit fort, »Wissen« nur als Produktionsmittel zur Steigerung der Effizienz und gesellschaftlichen Dominanz des Wirtschaftens anzusehen und zu fördern (dazu ist zu vergleichen der »BuFI«: BMFB [Hg.], Bundesbericht Forschung und Innovation, 2 Bde. 2016 [nach Auskunft dieses Ministeriums »das Standardwerk zur Forschungs- und Innovationspolitik Deutschlands«]).

      Beispiel 2: Die Gegenwartsgesellschaft wird aus der Perspektive der Sciences im Bunde mit Politik als »Wissensgesellschaft« proklamiert: – Für das 2011 vorgelegte Hauptgutachten des »Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen« (WBGU) ist die Gegenwartsgesellschaft insofern »Wissensgesellschaft«,46 als sie von umweltunverträglichen auf nachhaltige Pfade umschwenkt durch eine große Gesamttransformation, die von einschlägigen Sciences inspiriert und gesteuert wird, durchgesetzt jedoch durch eine den Maßgaben dieser Sciences folgende Gesetzgebung des »gestaltenden Staates«, der auch über die Instrumente der Meinungsbildung, insbesondere Schulen und Hochschulen, verfügt, die »den Menschen« (gemeint sind immer die Rechtsunterworfenen) die nötige Einsicht und Zustimmung ermöglichen. Auch der Weg, auf dem dies Ziel zu erreichen ist, zeichnet sich immer klarer ab: die Abstützung des Unterrichts an den staatlichen Schulen auf das Benutzen einer zentral verwalteten Schul-Cloud, das für den »gestaltenden Staat« zwei Leistungen auf einen Schlag erbringt, nämlich die zentrale Festlegung aller Lerninhalte (also auch des Unterschieds zwischen dem zentral für relativ wichtig und dem für relativ unwichtig Gehaltenen) und zugleich die lückenlose zentrale Beobachtung (und damit auch die faktische zentrale Kontrolle) des unterrichtlichen Umgangs von Schülern und Lehrer mit diesen Inhalten.47

      Beispiel 3: Die Gegenwartsgesellschaft als Wissensgesellschaft aus der Perspektive von Science im Bunde mit Technik – Hier wird die für die »Wissensgesellschaft« konstitutive Abhängigkeit von handlungsmachtsteigerndem Wissen aus den Sciences noch gesteigert vorgestellt: Die durch Scienceerfolge hervorgebrachten Techniken des Eingriffs in die genetische Ausstattung von Organismen und der Speicherung und Verarbeitung großer Datenmengen bringen eine Gestalt des Zusammenlebens hervor, in der dessen evolutionär gewachsenen organischen und kulturellen Bedingungen durch technisch erzeugte, künstliche Bedingungen aus dem Zusammenspiel von Gentechnik und Datenverarbeitungstechnik zunehmend ersetzt, die Menschen also biochemisch optimiert und kulturell von vielen anstrengenden Intelligenzleistungen (genau Datenerfassungs-, -speicherungs- und -verarbeitungsleistungen) entlastet werden.48

      Beispiel 4: Auch hinsichtlich der in ihr stattfindenden Lebenssinnkommunikation wird die Gegenwartsgesellschaft als »Wissensgesellschaft« proklamiert: Nicht bestritten wird zwar, dass es (aus religiös-theologischen und weltanschaulich-philosophischen Traditionen stammende) Annahmen über den Möglichkeitsraum »Welt« und sein Eschaton gibt, die nicht aus den Sciences stammen und eine lebenspraktische Rolle spielen, aber »Wahrheit« ist im Blick auf solche Annahmen nur durch ihre scientifische Betrachtung aus der Perspektive empirischer Psychologie und Soziologie oder auch der Hirnphysiologie zu gewinnen, die nach der psychischen und sozialen und neuronalen Funktion solcher Annahmen fragt. – Darüber hinaus wird aber auch behauptet – nicht unwidersprochen, aber doch mit großer Resonanz –, dass die Science und ihre Ergebnisse selbst schon die Wahrheit über unsere Welt und ihr Eschaton bieten. »Wissensgesellschaft« ist die moderne Gesellschaft damit auch insofern, als hier alle Selbstidentifikationen und Zielwahlen durch eine »wissenschaftliche Weltanschauung« (und Eschatologie) geleitet werden.49

      2.3 Diese Verhältnisse auf der Makroebene prägen auch die Mikroebene, den lebensweltlichen Alltag:

      In der Teilnahme am wirtschaftlichen und politischen Leben dominiert effektivitätssicherndes Fakten- und Regelwissen. Auch im persönlichen Verkehr, in Familie, Freundschaft und Bekanntschaft, kommt als »Wissen« nur solches Fakten- und Regelwissen in Betracht – wenngleich es in diesen Beziehungen auch immer wieder zurücktritt gegenüber dem Austausch von Befindlichkeiten aus dem Selbsterleben und Erleben von Beziehungen, freilich stets nur unter dem Titel von subjektivem »Eindruck«, »Gefühl« und »Meinung«. Erst Konstellationen des Selbsterlebens, die als Problem empfunden werden, sollen Inhalt eines handlungsleitenden Wissens, einer praktischen Gewissheit werden; dies dann aber wiederum unter Rückgriff auf Scienceprodukte: nämlich die Diagnose- und Hilfsangebote von Pädagogik, Psychologie und (sofern »sicher« wirkende Lösungen erstrebt werden) der Medizin.50

      Für das in den einschlägigen Gemeinschaften (exemplarisch der christlichen) überlieferte Gewissheitszeugnis über Ursprung, Verfassung und Ziel des Möglichkeitsraums menschlichen Lebens, der Welt-des-Menschen, wird der Status als unverzichtbarer Teil handlungsleitenden Erwartungswissens und der damit verbundene Wahrheitsanspruch außerhalb der Binnenöffentlichkeit dieser Gemeinschaften gar nicht mehr vertreten und weithin nicht einmal mehr innerhalb ihrer – entweder in zustimmender Übernahme der modernen Reduktion von praktischer Gewissheit auf Scienceprodukte, oder aus Furcht vor dem Vorwurf, unaufgeklärt, grundlos und friedensstörend einen Wahrheitsanspruch für Überzeugungen zu erheben, die nicht durch »Wissenschaft« (science) erzeugt sind.

      Fazit: Auf allen Ebenen und in allen Bereichen der Gegenwartsgesellschaft werden als »Wissen« so gut wie ausschließlich Produkte der Science thematisiert. Und diese auch nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Begründung und Ausweitung von auf Kultur und Natur zugleich zielender Kontroll- und Gestaltungsmacht, die ihrerseits das Fundament von Ansehen, Autorität und Führungsmacht ist. »Wissensgesellschaft« ist die Gegenwartsgesellschaft nicht in dem Sinne, dass sie auf Wissen und Wahrheit als Ziel (als Selbstzweck) gerichtet wäre, sondern in dem Sinne, dass es ihr um Wissen und Wahrheit als Fundament und Instrument von Macht geht, die in Konkurrenz obsiegt.

      Und zwar nicht nur innerhalb der Gesellschaften und zwischen ihnen, sondern ebenso im universalen Konkurrenzkampf der Evolution. Denn zufolge dessen was die Sciences seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute über den Menschen sagen, ist dieser Gewinner der Evolution, weil er das Tier mit überlegener Fähigkeit zu zielsicherem Wirken aufgrund entsprechenden »Wissens« ist.

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