Gemeinsame Gefahr hatte das Band der Volksverbundenheit geflochten, und die wohlhabenden Bauern halfen den um Hab und Gut gebrachten Flüchtlingen über die schlimmste Not hinweg.
Die Balum-Siedler trugen den Kopf nicht minder hoch als die übrigen Insassen des Kooges, und ihr Gruß ‚Eala, fria Fresa‘b) klang genau so selbstbewußt und stolz wie der ihrer Nachbarn. Und doch, auch hier war eine unsichtbare Grenze zwischen Reich und Arm gezogen, und noch jetzt, nach mehr als zweieinhalb Jahrhunderten, wurden die ‚Fremden‘ den Einheimischen gegenüber nicht als vollwertig anerkannt.
Die Folge war, daß diese kleine Gemeinde sich um so fester zusammenschloß und Leid und Freude in treuester Verbundenheit teilte. Nie mehr war es den Leuten gelungen, sich wieder zu Wohlstand emporzuarbeiten; aber fest klebten sie an der Scholle, die Liebe zur Heimat ließ ihnen Kämpfe und Sorgen gering erscheinen.
Kämpfe und Sorgen!
Ihr ganzes Leben war ein Ringen mit den Gewalten der Natur. Waren einige Jahre vergangen, in denen das Meer sich friedlich zeigte und sie in Ruhe ihre Ernte einbringen und ihr Vieh weiden lassen konnten, so bewies ihnen der ‚blanke Hans‘ doch immer wieder aufs neue, wie feindlich er ihnen gesonnen blieb. Deichbrüche und Überschwemmungen suchten Land und Leute heim.
Die Balumer waren fromm und gottesfürchtig. Ihr Sinnen und Trachten war darauf gerichtet, wieder, wie vor Zeiten, eine Kirche im Dorfe zu haben; doch nicht einmal für eine bescheidene Kapelle vermochten sie das Geld aufzubringen.
Stolz ragten die Gotteshäuser der drei reichen Dörfer über das weite, flache Land hinaus — wie trutzige, unbezwingliche Burgen waren sie anzuschauen.
Wenn die Männer der Bucht zu ihnen hinüberblickten, so regte sich wohl etwas wie Neid in ihrer Seele; aber stärker blieb doch das Gefühl der Dankbarkeit. Durch die ganze Insel waren die Pfarrer gewandert, von Wurft zu Wurft, und hatten geschildert, wie von 1625 bis 1630 Jahr um Jahr das salzige Meerwasser in den Koog eingedrungen sei, und wie das breite Siel, das sich vor der Bucht bis zur Ilgrofschleuse durch die Niederung zieht, die eindringenden Fluten nicht zu fassen vermochte, und die Ebene in einen See verwandelte.
Besonders wiesen sie auf die Not der armen Bewohner von Balum hin.
Da zeigte es sich, daß hinter der stolzen Maske der Bauern ein fühlendes Herz verborgen war. Wie ein Mann erhob sich die ganze Bevölkerung der Insel, um den bedrängten Brüdern zu Hilfe zu eilen.
Fester und höher denn je türmte sich nun der schützende Wall, und endlich fühlten sich die Menschen sicher und geborgen.
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In der trüben Morgendämmerung des 10. Oktober 1634 kommt die Flut auf. Die Wasserrinnen des Wattenmeeres füllen sich.
In einiger Entfernung vom Deich stehen ein paar Fischer und hantieren an ihren aufgestellten Uferzäunen. Sie leeren die Netze in Weidenkörbe aus. Gute Beute hat ihnen die See gebracht, vor allem viele schmackhafte Schollen.
Einige barfüßige Männer und Frauen begegnen ihnen. Alle tragen Körbe und ein an einem rechenähnlichen Gerät befestigtes Netz unter den Armen. Sie kehren heim vom Garneelenfang — das sind kleine Krebstiere. Jetzt wird die Beute besichtigt. Auch sie können mit dem Ertrag ihrer Arbeit zufrieden sein. Einige Taschenkrebse, die mit ins Garn gingen, werden herausgesucht und wieder ins Wasser geworfen, denn sie leben mit den Garneelen nicht auf friedlichem Fuße.
Im Ort beginnt alsbald eine emsige Tätigkeit. Die grünlichgrauen Krebslein werden in siedendes, salziges Wasser geschüttet; mit rotglühenden Feuerzangen wird der Kesselinhalt umgerührt.
Jetzt treffen auch die Tuulgräber ein. Sie haben im Watt aus den vertorften Moor- und Waldresten, die tief unter den Sand- und Schlickschichten ruhen, ihre freilich kümmerliche, salz- und schwefelhaltige Feuerung herausgegraben. Aus der ausgelaugten Asche des verbrannten, salzhaltigen Seetorfs wird das Salz gesotten. Viele hundert Jahre alt ist diese Art der Salzsiederei. Es ist ein mühseliges Brot. 800 Pfund Asche liefern etwa 300 Pfund Salz.
So versuchen die Leute von Balum sich außer dem Ertrag von Ackerbau und Viehzucht mancherlei Nebeneinnahmen zu schaffen.
Hoffnungsfroh blicken sie in die Zukunft. Vier Jahre haben sie jetzt in Ruhe und Frieden ihre Ernten einbringen können. Es geht aufwärts; und nicht lange mehr wird es währen, dann wird sich auch aus der Mitte ihrer Halden ein bescheidenes Gotteshaus erheben, dann wird endlich auch Segen auf ihrer Arbeit ruhen!
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Aus der Tür seines kleinen, sauberen Hauses tritt Ipke, der Schnitzer.
Er ist der klügste und angesehenste Mann im Orte, wortgewandt und schreibkundig. Ihm sind die Geschäfte eines Gemeindevorstehers übertragen.
Er macht einen Rundgang durchs Dorf. Überall wird er freundlich aufgenommen. Wer einen Rat oder Hilfe braucht, wendet sich an ihn. Vor allem aber ist er der Liebling der Kinder, denn keiner versteht es wie er, die unscheinbarsten Dinge durch seine Schnitzkunst in niedliches Spielzeug zu verwandeln; zudem kann er Märchen erzählen und lustige Lieder singen.
Eine Reise hat er vor! Zur alten Kirche will er; aber vordem wird er noch nach Balumoog hinüber fahren.
Balumoog, dieses Auge, das wie ein grüner Kranz aus dem Meere hervorschaut!
Fest verbunden fühlen sich noch heute die Buchtbewohner mit den Trümmern ihrer einstigen Heimat. Oft und gern sind sie dort drüben zu Gast, und große Freude herrscht im Orte, wenn von dieser Hallig Besuch zu ihnen kommt.
Ipke verabschiedet sich von seinen Freunden. Gute Wünsche begleiten ihn. Alle rufen ihm „Auf frohes Wiedersehen!“ zu. — Niemand ahnt, daß es ein Abschied fürs Leben ist.
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Balumoog und die Geschichte des Geschlechtes der Keiths sind so eng mit einander verbunden, daß eins ohne das andere gar nicht denkbar ist.
Vor vielen hundert Jahren hatten Uwes Ahnen mit wenigen stammesverwandten Familien sich hier niedergelassen und dieses Vorwerk menschlicher Siedlung begründet. — Damals sah die Gegend freilich noch anders aus. In weiter Ferne brandeten die Wogen der Nordsee, und zahllose Felder und Wiesen umgaben den Ort. Keine Sturmflut trug ihre Wellen bis in seine Nähe. — Doch das Meer ist geduldig. Unablässig nagte es an den Ufern, Tag für Tag, Nacht für Nacht löste es kleine Erdbrocken von der Küste, wühlte sich im Laufe der Jahrhunderte näher und näher an Balum heran. Springfluten beschleunigten das Werk der Zerstörung. —
Die große reiche Insel Nordstrand mit ihrer blühenden Hafenstadt Rungholt hatte sich längst durch Dämme geschützt; aber dieses einsame Bollwerk lag zu weit entfernt; den Bewohnern blieb nur die Wahl, den gefährdeten Ort zu verlassen oder sich selbst, so gut sie es vermochten, zu helfen.
Das Geschlecht der Keiths war zu stolz, um als Bettler zum reichen Nachbarn zu gehen. —
In jahrelanger, mühsamer Arbeit wurde Land auf Land getragen, bis eine hinreichende Erhöhung geschaffen war, die selbst die höchste Flut nicht erklimmen konnte. — Strandhafer und Gras wuchsen auf der Wurft; mit Flechtwerk und schweren Steinen wurden die Ufer der Hallig gegen das Meer verteidigt. — Dicht gedrängt standen nun die Gehöfte um ihre Kirche. Vor jedem Wohnhause befand sich eine ausgemauerte Zisterne, in der das kostbare Regenwasser aufgefangen wurde. — Das Vieh, — Kühe, Schafe und Geflügel, — war in rohgezimmerten Ställen untergebracht.
Ein Keith hatte dieses Werk geschaffen, und er konnte mit seiner Arbeit zufrieden sein, denn auf lange Zeit hinaus waren Leben und Wohlstand der Bewohner Balums gesichert. Noch dehnte sich zwischen der Halde und der Nordsee weites, fruchtbares Vorland.
Unablässig aber nagte das Meer an den Ufern; Schritt für Schritt fraß es sich näher an die Hallig heran.
Jahrhunderte gingen und kamen.
Jetzt ragten beim höchsten Wasserstand nur noch die Wiesenflächen wie grüne Inseln aus dem Meere, und ringsum dehnte sich zur Ebbezeit das Watt, dort, wo einst blühende Felder