Mit heiserer, drohender Stimme fragt der Angekommene, was das zu bedeuten habe.
„Ich sitze nicht mit einem zusammen, dem das Kainszeichen auf der Stirn brennt!“
Unwillkürlich faßt der Angesprochene an seine Stirn. Dann brüllt er auf; es klingt wie der Schrei eines todwunden Tieres: „Was wollt Ihr von mir?!“
„Sühne für Meikes Tod!“ wird ihm zur Antwort.
„Was habe ich mit der Hexe zu schaffen? — Niemand hat gesehen, wer die Tat beging, und nichts ist mir zu beweisen, nichts, auch nicht das Geringste, sage ich Euch!“
Arfst Röden tritt auf ihn zu; er spricht ernst, feierlich: „Per Godbersen, magst Du die Spuren Deiner Tat auch noch so sorgfältig verdeckt haben; wenn Du dem Arm der irdischen Gerechtigkeit entgehen solltest, der Schatten der Toten wird Dich zu finden wissen!“
*
Die Tür zum Krug fällt krachend ins Schloß. Ein Ausgestoßener flieht vor sich und seinen Mitmenschen durch Nacht und Sturm. — Fort muß er! Fort! Herunter von der Insel, bevor die Schergen ihn greifen oder die Hexe ihn zu sich ins Unbekannte zieht.
Er schwingt den schweren Klootstock. — Wehe, wenn einer es wagen sollte, ihn zu verfolgen!
Per Godbersen stürzt vorwärts, als seien ihm die Furien auf den Fersen. Er achtet nicht auf Weg und Steg, nur weiter; irgendwo am Strande wird sich schon ein Boot finden, und irgendwo wird er landen, wo ihn niemand kennt.
Wo ist er?
Seltsame, krüppelhafte Wesen stehen dort und strecken lange, dünne Arme nach ihm aus. Sind es wirklich nur die alten Weiden am See oder böse Geister, die ihn packen wollen? — Weiter!
In den Lüften heult der Wind. Klingt es nicht wie das Schmerzensgeheul der alten Meike, als sie bei lebendigem Leibe verbrannte? — Weiter! — Weiter!
Herbstnebel wallen vorüber.
Eine Gestalt wird sichtbar, klein, verwachsen. Sie hält den Krückstock erhoben und winkt.
Lebt denn die Hexe noch immer?
Wirklich! Ganz deutlich schaut sie jetzt aus dem Unterholz hervor. Per zieht sein breites Messer. — Warte, Verfluchte, dieses Mal kommst Du nicht davon! — — Er sticht ins Leere.
Wenige Schritte von ihm entfernt steht das Gespenst.
Weiter und weiter lockt es den Rasenden; nichts sieht und hört er mehr als dieses Schattenwesen.
Dort, auf dem freien Platz, wo die weißen Blumen, Moose und Gräser wachsen, erscheint ihm Meike jetzt. Er glaubt, ein höhnisches Lachen zu vernehmen. Mit einem Satz springt er zu ihr hinüber. — — Sie ist verschwunden; nur Nebelschwaden wallen auf und nieder.
Der Boden wankt ihm unter den Füßen. Er fühlt, wie er sinkt. Eine wahnwitzige Angst packt ihn. Krampfhaft versucht er, sich aus der zähen Umklammerung zu befreien; festes Land will er gewinnen; aber tiefer und tiefer ziehen ihn unsichtbare Hände ins Moor.
Regen fällt in langen, grauen Fäden zur Erde hernieder. Wasserlachen verwischen die letzten Spuren des Flüchtlings. —
*
Am Vorabend der Katastrophe.
Von der Boptee- bis zur Volgsbüll-Schleuse zog sich ein breiter Wasserlauf durch den Hagebüllerkoog. Zwischen Bopsee und Königsbüll zweigte sich eine breite Wehl bis zur Ilgrofschleuse ab. Zahlreiche andere Wasserarme, Siele genannt, befinden sich auf der Insel.
Ein reges Leben herrschte hier noch bis vor kurzem. Schiffer aus Husum, Stade, Hamburg und Holland hatten Vieh, Getreide und sonstige Lebensmittel geladen.
Frauke steht auf der Wurft und sieht das letzte Segel in der Ferne entschwinden.
Ruhig wird es wieder im Lande.
Die Erntearbeiter sind nach dem Festlande gezogen — Stille und Einsamkeit ringsumher. — Eine schier erdrückende Stille!
Die junge Frau schreitet über den Hof. Erk kommt ihr entgegen, die kleine Jongbon an der Hand.
Das Kind sucht, sich vom Vater zu befreien. Es will zur Mutter! Nun hat es seinen Willen erreicht und läuft lachend in ihre ausgebreiteten Arme.
Wie wohl diese sorglose Heiterkeit inmitten all des Schweren, Niederdrückenden tut! — —
Es ist Zeit zum Abendessen.
Am Tische sitzen Bauer, Bäuerin, Knechte und Mägde beisammen.
Die alte Kresse spricht das Gebet:
„Herr Jesu-Christ, sei unser Gast,
Und segne, was du uns bescheret hast!“
Seltsam schleppend und feierlich spricht sie die schlichten Worte.
Schweigsam ist sie geworden, seitdem Frauke auf dem Hofe ist. Nie spricht sie unaufgefordert ein Wort, und, wird sie gefragt, so gibt sie einsilbige, mürrische Antworten.
Wie eine Erlösung klingt das muntere Geplauder Jongbons. Sie ist der Liebling und Verzug aller.
Die junge Mutter atmet erleichtert auf, als sie sich mit ihrem Kindchen allein im Schlafzimmer befindet.
Im Bettchen liegt die Kleine und plappert das Nachtgebet:
„Im Namen Gottes schlaf ich ein;
Der Herr wird mein Beschützer sein.
Beschütze mich auch diese Nacht,
Vor allem bösen Ungemach!“
Frauke wendet sich zum Gehen, aber das Mädel ist noch zu munter, um sogleich einzuschlafen; zudem möchte es auch etwas Lustiges hören, etwas, was es versteht, und worüber es lachen kann. — Ein Wiegenlied!
Geduldig setzt sich die Mutter noch einmal zu ihrem Töchterchen und singt:
„Bimmel, bimmel beier,
Di Koster mei nin Anje
Wat ma hin dann?
Hi mei wull Speck en Roggebruad,
Een Aaje ön e Pön.“ a)
Ein fröhliches Gekräh und einen Kuß erntet sie zum Danke.
Draußen vor der Tür steht Frauke und preßt die Hand aufs Herz.
Erk tritt an sie heran.
„Was ist Dir?“ fragt er.
Sie klammert sich, einer plötzlichen Eingebung folgend, an ihn; als könne dieser starke Mann sie vor aller Not und Gefahr schützen und flüstert:
„Die Angst, die furchtbare Angst!“
Er schließt sie fest in seine Arme: „Aber vor was fürchtest Du Dich denn?“
„Vor einer Gefahr, die ich nicht sehen kann aber unabwendlich nahen fühle!“
Schweigend küßt Erk die geliebte Frau.
Noch lange stehen beide am Fenster und schauen hinaus in die Nacht. Vom Deich her hört man das Rollen der finsteren See, und weit draußen im Westen flammt es gespenstisch auf. In langen Abständen folgt ein schwaches Donnergrollen.
*
Im westlichen Zipfel des Bupheveringkooges haben die Fluten sich tief in das Land hineingewühlt. Hart an dieser Bucht liegen, weithin zerstreut, wohl an die zwanzig Hütten und Katen. Wie verängstigte, hilfesuchende Kinder haben sie sich hinter dem Damm verkrochen. Und doch sind die Bewohner dieses armseligen Dorfes Nachkommen reicher Halligleute, die einst auf dem Eiland Balum in Wohlstand ein sorgloses Leben führten, bis die große ‚Manndränke‘ in den furchtbaren Tagen und Nächten des 15. bis 17. Januars 1362 die meisten ihrer Ahnen zu sich in die Tiefe zog, die Wenigen aber, die mit dem Leben davonkamen, zu Bettlern machte. Man überließ ihnen ein wenig Land, armseligen Boden, und auch diesen gab man ihnen nur, weil der große,