»Die Corona-Pandemie erinnert mit viel Nachdruck daran, dass das Morgen nicht einfach in eine vorhersehbare Zukunft und eine unvorhersehbare Zukunft unterteilt werden kann. Allgemein gilt es zu sagen, dass es immer vorhersehbarere und weniger vorhersehbare Anteile der Zukunft gibt. Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass der Grad der Vorhersehbarkeit eine Frage des Gesichtspunktes beziehungsweise des Betrachters sein kann. Was für den einen eher unberechenbar war, war für den Experten auf diesem Gebiet vielleicht eindeutig vorauszusehen. Es gibt zwei Zukünfte, und es gibt vor allem jede Form von Übergängen zwischen diesen beiden (Hengstschläger: ›Zwei Zukünfte‹, 2018.)«
Aus Individualperspektive kann man eigentlich immer nur von vorhersehbareren und unvorhersehbareren Zukunftsanteilen sprechen. Aber wie sieht das in einer heute so global vernetzten Welt aus? Gibt es nicht immer irgendwo irgendwen, der das kommen gesehen hat? Mit dem nötigen Ernst betrachtet, darf man aber schon die Frage stellen, ob die Zukunft heute allgemein vorhersehbarer geworden ist, als sie es früher einmal war, oder ob sie weniger berechenbar geworden ist. Wir leben in einer vermessenen Welt, mit Menschen, die vermessen werden, manchmal freiwillig, oft aber auch unfreiwillig. Und die weltweite Verfügbarkeit von Daten und Informationen war noch nie so hoch wie heute. Nicht nur aufgrund der globalen Riesenunternehmen aus dem Silicon Valley, die möglicherweise ohnedies schon alles über alles und jeden wissen, oder wegen der allgegenwärtigen Überwachung in China, ganz allgemein hat der digitale Wandel den Menschen und die Welt so gläsern gemacht wie noch nie. Wetterdaten, Klimadaten, Unternehmensdaten, Wirtschaftsdaten, Migrationsdaten, Gesundheitsdaten, Daten betreffend Kaufverhalten oder Kommunikation, Mobilitätsdaten und vieles mehr werden gesammelt, gespeichert, ausgewertet und gehandelt wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. All diese Big Data können heute herangezogen werden (immer mehr auch über künstliche Intelligenz), um in der Gegenwart Voraussagen (Predictive Analytics) über die Zukunft zu machen. Und schon könnte man zu dem Schluss kommen, dass die Zukunft noch nie so kalkulierbar und vorhersehbar war wie heute.
Andererseits verwenden viele den Begriff »volatil«, um die heutige Welt mit ihrer Gegenwart und ihrer Zukunft zu beschreiben. Volatilität steht für Schwankungen und Unbeständigkeiten in relativ kürzeren Zeitspannen, also für instabile, nicht vorhersehbare, unberechenbare Zustände. Das Akronym, das wie kaum ein anderes aktuell zur Beschreibung des Zustandes der Welt verwendet wird, ist VUKA (volatil, unsicher, komplex, ambivalent). Aber auch die Unvorhersehbarkeit der Zukunft hat schon eine gut belegbare Tradition. Die 1895 geäußerte Zukunftsprognose von Gottlieb Daimler für das 1886 von Carl Benz entwickelte Automobil bescheinigte ihm den Bau von höchsten 5000 Stück, weil schließlich nicht mehr Chauffeure existierten, um Autos zu steuern. Zwei Jahre nachdem Konrad Zuse seine Rechenmaschine Z3, den ersten funktionsfähigen Computer, baute, soll 1943 der IBM-Chef Thomas J. Watson angeblich gesagt haben, dass er glaube, es gäbe weltweit Bedarf an vielleicht fünf Computern. Und als Tim Berners-Lee sein 1989 entwickeltes World Wide Web im Jahr 1991 bei einem Kongress in San Antonio vorstellen wollte, hat man seine Präsentation als nicht spannend genug für das Vortragsprogramm eingestuft. »Die Nazi-Diktatur sahen Politiker ebenso wenig voraus wie später das deutsche Wirtschaftswunder. Von der Ölkrise wurden Ökonomen so überrascht wie Politiker von den 68er-Protesten und der Umweltbewegung. Stattdessen rechnete man in den Sechzigern damit, dass man bald Bergwerke auf dem Mond betreiben würde. Und dass es 1989 zur Wiedervereinigung kommen würde, hielten noch wenige Monate zuvor die Experten für ebenso unwahrscheinlich wie im Jahr 2015 die Möglichkeit, dass ein narzisstischer Aufschneider wie Donald Trump je US-Präsident werden könnte«, schreibt Ulrich Schnabel in der Wochenzeitung Die Zeit (Schnabel: »So kommt das Neue in die Welt«, 2019). Und so manche sprechen sogar schon davon, dass wir in einer VUKA-Welt mit einem völligen Verlust der Vorhersehbarkeit leben – die Gegenwart also immer weniger über die Zukunft weiß.
Ob nun berechenbarer oder unergründbarer, die Zukunft wird heute von vielen Menschen mit dem Gefühl eines immer höheren Veränderungsgrades in Verbindung gebracht. Fast jede Technologie, die schon heute, aber morgen noch viel mehr, unser Leben prägt, hat eine digitale Komponente. Exponentielle Entwicklungen sind zum Markenzeichen des digitalen Wandels mit der Universaltechnologie der künstlichen Intelligenz geworden. Eine Besonderheit unserer Gegenwart ist die Tatsache, dass lineare Entwicklungen gegenüber exponentiellen Prozessen immer mehr in den Hintergrund geraten. Sowohl das Ausmaß als auch die Geschwindigkeit der Veränderung scheint stetig zuzunehmen. Der Eindruck, dass wir in immer hektischeren und schnelllebigeren Zeiten leben, hat sich festgesetzt. Der große Wunsch nach Entschleunigung, der Kampf gegen permanentes Multitasking, Achtsamkeitstraining (Mindfulness), Meditation, das gemütliche Hygge als das dänische Geheimnis des Glückes, aktive Auszeiten vom Smartphone, Digital Detox und die Überwindung der Angst, etwas zu verpassen (FOMO – Fear of missing out), sind nur ein paar wenige der populär gewordenen Bemühungen, wieder Geschwindigkeit herauszunehmen. Es scheint zurzeit aber alle Strömungen zu geben. Für viele Menschen, und nicht nur für jene in der Midlife-Crisis, scheint nämlich das alltäglich Erlebte keine Befriedigung zu bieten und Vorhersehbarkeitsgrad und Monotonie wiederum zu hoch zu sein. Für jene können Freizeit und Urlaub nicht aktions- und temporeich genug sein, vollgepackt mit »Abenteuern« wie permanenten Social-Media-Chats in Echtzeit, Wochenendshopping, Tinder-Bekanntschaften oder Partymeilen. Und doch scheint die Mehrheit der Menschen ihre berufliche und private Welt auch ohne all das schon als immer hektischer, stressiger und psychisch belastender zu erleben. Auf viele Menschen kommt die Zukunft zumindest gefühlt einfach zu schnell und mit zu vielen Fragezeichen zu. Auch deshalb nehmen psychische Erkrankungen in unserer Gegenwart stark zu, bis hin zur Berufsunfähigkeit aus psychischen Gründen.
»Ich hatte in meiner Jugend einmal ein kurzfristiges Interesse an Punk (aber auch an anderen Jugendbewegungen), habe manchmal Punk-Musik gehört und mich sogar manchmal entsprechend ge[ver]kleidet. Ein richtiger Punk war ich jedoch nie. Dafür könnte man viele Begründungen aufzählen. Eine, die mir heute im Nachhinein als bedeutend erscheint, ist die Tatsache, dass mir auch der Slogan der Punkbewegung »No Future« nie wirklich zugesagt hat. Selbst wenn man diesen Slogan auch so interpretieren kann, dass, wenn es keine Zukunft gibt, man doch gerade jetzt etwas bewirken kann (Bude: Gesellschaft der Angst, 2020) – ich persönlich war immer ein Fan der Gegenwart mit einem ganz speziellen Hang für die Zukunft. Ich habe immer an die Zukunft geglaubt. Ich wollte im Jetzt meinen Teil beitragen und wollte gleichzeitig immer wissen, was mir die Zukunft bringen wird. Warum aber will der Mensch die Zukunft überhaupt vorhersehen? Eigentlich hatte die Zukunft in der Gegenwart schon immer Hochsaison: das Orakel von Delphi im antiken Griechenland, die Seherin Kassandra aus der griechischen Mythologie, Auguren im alten Rom, die den Götterwillen aus dem Flug und Geschrei der Vögel lasen, die Prophezeiungen des Nostradamus, all die Kartenleger und glas-kugel-affinen Wahrsager bis hin zur Krake Paul, die bei der Weltmeisterschaft 2010 Fußballspielergebnisse voraussagte. Der Mensch will etwas über die Zukunft wissen, weil er gegenwärtige Entscheidungen und Handlungen von dem abhängig machen will, was kommen wird.«
Und das ist natürlich sehr verständlich und auch sehr gut so. Zumindest wenn die Voraussagen auf etabliertem Wissen und bereits gemachten Erfahrungen