Eines Tages, wir waren da schon etwas älter, besuchte ich sie mal wieder. Eine schlechte Gegend, eine Siedlung mit Müll in den Hausfluren und Bewohnern mit schmutzigen Gesichtern. Ziemlich ›assi‹. Ich fühlte mich da echt wie eine Elfe, fremd an diesem Ort und völlig unpassend. An diesem Tag im Sommer wollten Carmen und ich Federball spielen. Wir gingen ganz ans Ende der Siedlung, wo die Häuser der Siedlung nur noch zwei Etagen hatten und ins pure Buschwerk und Brachland überging. Da war es ganz einsam und es gab ein kleines Stück Wiese, wo wir spielen konnten.
»Wir müssen ein wenig aufpassen«, meinte Carmen und zeigte auf den kleinen Balkon im Parterre. »Der Typ, der da wohnt, ist ein ziemlich geiler Bock. Als ich hier mal vorbeiging, hat er gefragt, ob ich gerne zu ihm reinkommen würde. So ein geiler Bock mit rasiertem Schädel und tätowiert bis hoch zu den Ohren. Der war schon im Knast und ist bestimmt schon Mitte dreißig. Hat wohl nichts zum Ficken, der Arme, dass er sich an Mädchen schmeißt, die noch in die Schule gehen. Wenn der uns in die Hände bekäme, der hätte echt genug Ideen, was er mit uns macht!«
Ich schaute zu der offenen Tür des Balkons hin und starrte in die Dunkelheit des Zimmers. Ich spürte starke Emotionen. Sie gingen durcheinander. Es war Erschrecken, Angst, Faszination, Reiz. Etwas Unbekanntes wühlte mich auf. Als wir dann spielten, ging das nicht weg. Ich war abgelenkt, ich war unkonzentriert, ich dachte an den Mann mit dem kahlen Schädel in dem dunklen Zimmer. Stellte mir vor, wie er in seiner Dunkelheit auf junge Mädchen wartete und bereit war, ihre Unschuld in harte Erfahrung umzukehren.
Und dann, wie etwas, das geschehen musste wie Schicksal, sprang der Federball von meinem Schläger ab und flog in weitem Bogen in das Zimmer hinein. Carmen schaute dem Ball wie erstarrt hinterher. Dann musste sie mir ihren Mut beweisen. Sie stieg den Meter hoch auf den Balkon und dann über das Geländer in das Zimmer ein, in der Überzeugung, die Wohnung sei verlassen, da wir von drinnen nichts gesehen und nichts gehört hatten. Wir hatten den Eindruck, der Kerl wäre nicht zu Hause. Mir war mulmig, wie Carmen im Dunkel des Zimmers verschwand. Sie schnappte sich den Federball und wollte zum Balkon zurückeilen.
Da sprang mit einem Mal der Typ wie ein Schatten hinter dem Vorhang der Tür hervor und packte sie brutal! Er hielt sie an den Armen fest. Carmen zeterte vor Entsetzen. Der Typ zog sie ein Stück weiter ins Zimmer rein. Sein Ärger über den Eindringling wandelte sich in ein Wohlgefühl der Macht, welche ihm so einfach in die Hände gefallen war. Er hatte ein Mädchen gefangen und konnte jetzt alles mit ihr tun. Er hielt sie fest. Und sie, gelähmt in ihrem Schreck, wusste nicht, wie ihr geschah. In diesem Moment sah ich sie wie noch nie - ein verkrampftes, ängstliches Mädchen, hilflos und verloren. Es verlor den Boden und das Gesicht. Dieser gerissene und schamlose Mut, den sie immer gehabt hatte - er hatte sie verlassen.
Der Typ triumphierte roh. Er zog die dünnen Träger ihres Shirts herunter, dann drückte er sie an ihren nackten Schultern zu Boden. Und öffnete dann mit einer Geste von Macht seine Hose. Carmen heulte erbärmlich auf. Sie bettelte um Gnade. Der Typ verlangte, sie sollte ihm einen blasen. Er zog sich das Shirt über den Kopf. Sein Oberkörper war muskulös auf eine grobschlächtige, hässliche Art. Vom Nabel bis zu den Händen und bis zum Kopf war ein schmutziges Blau in seine Haut eingebrannt. Er war bedeckt von billigen, brutalen Tätowierungen. Sein Schädel war nackt und sein Blick war gierig und verkommen. Er sah zum Fürchten aus.
Nichts schien Carmen vor ihrem Schicksal zu bewahren. Die Tränen rannen ihr übers Gesicht und sie krümmte sich vor Scheu und Angst. Da geschah etwas, das mich total überraschte, obwohl es aus mir selbst kam. Ich stieg den Meter auf den Balkon hoch und stieg beherzt über das Geländer. Dann trat ich in das Zimmer ein. Ich ging auf diesen Typen zu.
»Lass meine Freundin in Ruhe. Sie hat Angst. Lass sie gehen und nimm mich dafür.«
Der Typ schaute ungläubig auf: »Und du? Du hast keine Angst?«
Ich wusste die Antwort nicht, ich fühlte jetzt gar nichts, denn ich war von der Situation wie betäubt, weil ich nicht wusste, was ich da tat.
»Weil du mit Angst nie zu tun hast«, antwortete er für mich. »Weil du aus einer Welt kommst, in der die Dinge fein und schön sind und es genug Geld gibt, viel mehr, als man braucht. Für dich ist es unnötig, zu wissen, was Angst ist.«
Ich senkte den Blick, denn er hatte recht.
»Hör zu, weißer Schwan«, sprach er weiter. »Du gehörst nicht hierher. Du kommst aus dem Himmel. Und hier machst du dir nur deine weißen Flügel schmutzig. Also flattere wieder weg. Und lass deine Freundin das tun, was sie vielleicht sehr gut kann!«
Ich hob meinen Blick und sagte couragiert: »Nein! Sie will das nicht. Du lässt sie in Ruhe!« Ich sagte: »Nimm mich dafür! Egal, was es mit mir macht!«
Er funkelte mich mit sarkastischem Blick an und sagte: »Weißer Schwan, flieg schnell davon, bevor der böse Wolf dich reißt!«
Ich hielt diesen Blick und es war, als wäre da eine Kraft, die mich in ihn hineinzog und die zugleich vor ihm bestehen wollte.
»Nein, Marion!«, jammerte Carmen. »Du bist viel zu gut für ihn! Du weißt nicht, was du da tust. Das brauchst du für mich nicht zu tun. Für mich ist das hier nicht so schlimm wie für dich. Willst du denn wirklich bei diesem Schwein deine Unschuld verlieren?«
Er warf einen wütenden Blick auf sie.
»Hör nicht auf sie!«, erklärte ich. »Hier bin ich! Nimm mich für sie.«
Ich wollte seine herablassende Gnade nicht. Ich wollte nicht, dass er mich anders behandelte als Carmen. Der verdammte Kerl sollte mich ernst nehmen. Ich lenkte seinen Blick wieder auf mich. Er schaute mich an.
»Ach, du Edle und Volle, Mädchen gepflegt wie ein Rennpferd, Mädchen mit den Perlen-Ohrringen, Mädchen mit den Klavierfingern, Mädchen aus gutem Hause - willst du das wirklich? Oder weißt du nicht, was deine Worte sind?«
Er sagte es abschätzig und dämonisch. Ich hielt trotzig seinen Blick. Ich leistete Widerstand. Stemmte mich gegen die soziale Verachtung, die in seinen Sätzen klang. Ich wollte meinen Wert beweisen. Da wusste er, dass ich es ernst meine.
»Du hast Stolz, du hast Haltung - das muss man dir lassen.«
Er nahm er einen Schritt Abstand von Carmen und sah mich an von Kopf bis Fuß.
»Stramme Beine, ein rundes Gesäß, ´ne traumhafte Oberweite, volle Lippen und verträumte Augen und ´ne schöne, blonde Lockenmähne«, definierte er mich und ließ seinem ungläubigen Blick die Worte folgen: »Na, das nenn ich einen Tausch: Ein dreckiges Täubchen wird ersetzt durch einen prachtvollen weißen Schwan!«
Carmen flatterte auf und floh zum sicheren Balkon hin. Stellte sich dort ans Geländer und starrte entsetzt zu mir ins Zimmer hinein.
»Lauf, Marion, lauf schnell zu mir. Lass uns abhauen! Wenn er uns hier auf dem Balkon kriegt, dann schreien wir ganz laut!«
Aber ich rührte mich nicht. Ich dachte nicht daran. Ich hatte mich gestellt. Es ging mir gegen den Strich, jetzt davonzulaufen, nachdem ich meine Freundin durch einen Handel befreit hatte. Es schien mir, ich hätte dann meinen Stolz verloren, mein Gesicht, meine Würde. Ich musste zu meinem Wort stehen, sogar bei so einem Typen wie diesem.
»Ihr Vater sitzt im Ministerium«, kreischte Carmen feige herein. »Und wenn er erfährt, was du mit ihr tust, dann steckt er dich hinter Gitter und wartet davor, bis du verhungert bist!«
Der Kerl brüllte zurück: »Ihr seid Einbrecherinnen. Ich mache mit euch, was ich will!«
»Marion ist das schönste Mädchen an unserer Schule. Viel zu schade für dich, du hässlicher Mistkerl!«
Er kam mir nahe. Er stand vor mir und wir schauten uns ganz und gar an. Sein Blick war hungrig und schamlos. Ich hatte das Gefühl, er schöpfte aus mir, wie eine schmutzige Hand eine Delikatesse aus einem Teller schöpft. Er drang mir tief in die Seele, und doch konnte er mich nicht ganz fassen - Augen reichten nicht aus. Ich erkannte seine Realität. Ich sah, was dieser Mann gewöhnt war: eine Unmenge an Einsamkeit und unerfüllter Lust. Ein Verlangen, das nicht gestillt wurde, oder manchmal durch schmutzige,