Er glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Beinahe hatte er sich vor Schreck verspielt. Aber offenbar versuchte sie aus der Situation herauszukommen, indem sie den Spieß umdrehte. Doch er dachte nicht daran, sich den schwarzen Peter zuschieben zu lassen:
»Frau Melzer, wovon reden Sie? Es gab lediglich einen Besichtigungstermin, bei dem ich Ihnen versicherte, dass der Bauplan Ihren Wünschen voll gerecht werde. Es wäre besser für uns beide, wenn wir uns in dieser Art an dieses Treffen zurückerinnern würden.« Marc hatte es vorgezogen, in einen geschäftsmäßigen Ton zu wechseln, aber ihr auch die Möglichkeit zu geben, ohne Gesichtsverlust aus der Sache herauszukommen. Sie hatte dann einen Schmollmund gezogen, ihre Handtasche genommen, sich neben ihn gestellt. Dann hatte sie sich zu ihm herabgebeugt, sodass sich ihre Wangen berührten und ihm ins Ohr gehaucht:
»Ach, komm schon, Marc, du hast es doch genossen, du Hengst. Wenn dein blödes Telefon nicht geklingelt hätte, dann hättest du mich dort oben garantiert sexuell belästigt und nach Strich und Faden durchgevögelt.« Ihre Stimme verriet ihm, wie enttäuscht sie immer noch über die entgangene »Belästigung« war.
»Dorothee, wir sollten das wirklich auf sich beruhen lassen und wieder einen professionellen Umgang miteinander pflegen.«
»Sehr, sehr schade«, sie bemühte sich offenbar, gleichgültig zu klingen. »Falls du es dir anders überlegst«, sie wandte sich zum Gehen. »Ich habe ein Separee gebucht. Vielleicht besuchst du mich mal in deiner Spielpause.« Dann war sie mit schnellen, entschlossenen Schritten davongetrippelt.
Es war ihm an diesem Abend dann aber gelungen, seinen kleinen Freund in der Hose, der drauf und dran war, eine Dummheit zu begehen, in die Schranken zu weisen und dieser Einladung nicht zu folgen. Offenbar war das die richtige Entscheidung gewesen, denn am heutigen Nachmittag kamen trotzdem alle Unterlagen von der Kundin unterschrieben und bewilligt im Büro an. Der Bau konnte endlich beginnen.
Als Marc an diesem Abend in seine Sommerbehausung am See kam, setzte er sich sofort an sein Keyboard. Obwohl sich beruflich alles geordnet hatte, spukte in seinem Hinterkopf immer noch die missglückte Verbindungsaufnahme durch Juliette herum. Er hatte noch zwei-, dreimal versucht, zurückzurufen, aber erfolglos. Was wollte sie wieder von ihm? Würde es eine neue Runde in ihrer eigenartigen Beziehung geben? Er wollte diesen lästigen Gedanken vertreiben und begann zu spielen.
Die Klaviermusik war schon immer seine große Liebe gewesen. Er hatte sich vor ein paar Jahren ein teures Keyboard für sein Sommerdomizil gekauft, auf dem er fast ausschließlich die Piano-Funktion nutzte. Immer wenn er das Verlangen hatte, seinen Kopf freizubekommen, setzte er sich an das Instrument und spielte eine Sonate, einen Blues oder einen Ragtime. Manchmal improvisierte er auch einfach und hin und wieder entstand daraus sogar eine neue Nummer für das »Al Gusto«. Doch darum ging es ihm in diesen Momenten gar nicht vordergründig.
Heute spielten seine Finger wie von selbst die Anfangsakkorde einer einfachen, aber sehr zu Herzen gehenden Melodie. »Die Träumerei« von Robert Schumann war genau das Stück Musik, das ihn in diesem Augenblick auf den Boden zurückholte. Schumann hatte dieses Stück damals seiner Frau Clara gewidmet, die selbst eine sehr talentierte Musikerin gewesen war, aber sich ihrem Mann zuliebe mit der Rolle der Ehefrau beschieden hatte. So waren die Zeiten damals, es gab keine Alternative. Clara! Da war doch was. Er hatte Ben versprochen, sich in diesem Forum umzuschauen. Ein bisschen neugierig war er ja doch. Nachdem der Schlussakkord verhallt war, begab er sich zu seinem Schreibtisch und startete seinen neuen Computer.
Marc rief das Diskussions-Board »Opus« mit dem blauen Noten-Hintergrund auf, das ihm Ben am Tag zuvor gezeigt hatte. Er setzte ein Lesezeichen auf die Seite und klickte in das Feld mit der Bezeichnung Username. Seine Finger legten sich auf die Tastatur und tippten das Wort »JohnnyB«. Dann wählte er das Passwort-Feld und gab die achtstellige Zeichenfolge ein.
Zunächst war das Ganze etwas unübersichtlich für ihn, aber schon bald fand er sich zurecht und stöberte durch alle Bereiche und Rubriken, schrieb selbst Kommentare und beteiligte sich an Diskussionen zu allen möglichen Themen. Er war voll in seinem Element, »Opus« könnte für ihn tatsächlich eine interessante Freizeitbeschäftigung werden. Auf diese »Clara« traf er dabei ganz von selbst, ohne gezielt suchen zu müssen. Diese Benutzerin, deren Hauptinteresse der Klaviermusik galt, fiel ihm sofort durch intelligente Beiträge auf, die sprachlich wie inhaltlich sehr gedankenscharf waren und fast immer seinen Nerv trafen.
Ein Thema in der Rubrik »Musik allgemein« stand unter dem provozierenden Titel: »Klassik ist langweilig!« Marc las einige Beiträge und verfolgte ein wenig amüsiert, wie sich Klassik-Gegner und -Befürworter in den Haaren lagen, manchmal ging das für seinen Geschmack ein wenig unter die Gürtellinie. Und mittendrin die Meinung von Clara, die ihre Liebe zu dieser Art von Musik deutlich machte, ohne dass sie diese Arroganz zeigte, die manchen Klassik-Fans anhaftete, weil sie glaubten, sie hörten die wertvollere Musik. Clara wagte es sogar, diese Meinungen zu kritisieren, obwohl sie eigentlich Pro-Klassik postete und dem Initiator des Threads auch gehörig die Meinung geigte. Marc fühlte sich gemüßigt, auch einen Beitrag zu schreiben. Er versuchte die Streitereien auszugleichen und führte ins Feld, dass jede Art von Musik ihre Reize habe und dass es ziemlich überflüssig wäre, auf diese Art aufeinander herumzuhacken.
Dann entdeckte er den Thread über die neue CD der Metal-Band »Psychokill«, in dem der Benutzer »Hammer« schrieb: »Jeder Mann, der Eier hat, wird diese Scheibe lieben.« Ihm fiel wieder der Lärm ein, den Ben gestern angeschleppt hatte. Das ging gar nicht! Aber sofort ermahnte er sich, an seinen eigenen Beitrag von eben zu denken. Jeder soll das hören, was ihm gefällt, es macht keinen Sinn, seinen eigenen Musikgeschmack über den anderer zu stellen. Clara hatte als Reaktion auf Bens Äußerung mit einem frechen Post geantwortet: »Kann ich das auch gut finden, wenn ich eine Frau bin, die Hirn hat?« Darauf die Antwort von Ben: »Frauen und Hirn …?«, dazu ein Smiley, der versucht, sich den Kopf an einer Wand einzuschlagen. Er konnte nicht begreifen, dass Ben offenbar glaubte, mit dieser Masche eine Frau wie Clara zu beeindrucken.
Marc registrierte plötzlich, dass sich das Briefsymbol in der oberen rechten Ecke von blassgelb auf rot umgefärbt hatte. Er klickte darauf und las:
Sie haben 1 neue persönliche Nachricht(en)
Clara: Willkommen JohnnyB!
Das würde Ben gefallen, er war kaum eine Stunde online und schon hatte er eine private Nachricht von dieser geheimnisvollen Fremden, die es seinem Kumpel augenscheinlich so angetan hatte, in seinem Postkasten. Neugierig klickte er auf den Link:
27.05. 20:02
Betr.: Willkommen JohnnyB!
Hallo,
ich begrüße dich bei uns im »Opus«, JohnnyB. Du hast dich mit deiner Äußerung ja gleich sehr »beliebt« gemacht ;-)! Aber du sprichst mir voll aus dem Herzen!
Liebe Grüße und viel Spaß noch bei uns
Clara
Er betätigte den Button »Antworten« und schrieb:
Liebe Clara,
herzlichen Dank für deine nette Begrüßung. Ein Freund hat mir von diesem Forum erzählt, aber der ist auch ziemlich leicht begeisterungsfähig ;). Eigentlich wollte ich nur aus Neugier einmal kurz reinschauen, um mich zu vergewissern, dass ich bisher nichts verpasst habe. Doch nun muss ich feststellen, dass ich mich hier sehr gut aufgehoben fühle. Nicht nur, dass es eine Menge Informationen gibt, die man woanders nur schwer bekommt, nein, es tummeln sich hier auch sehr kompetente Musikliebhaber und nette Menschen. Das trifft übrigens ganz besonders auf dich zu. Deshalb komme ich sehr gern wieder mal vorbei.
Liebe Grüße
JohnnyB
Marc drückte auf den »Absenden«-Knopf, ohne lange darüber nachzudenken, ob sein Kompliment vielleicht nicht gleich zu persönlich war. Ben hatte recht. Diese Benutzerin war etwas ganz Besonderes. Das spürte er bei jeder Zeile, die sie schrieb, bei jedem Gedanken, den sie formulierte. Warum sollte er ihr das nicht mitteilen? Im echten Leben würde