Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2). Siri Pettersen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Siri Pettersen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783038801146
Скачать книгу
sie in Ymsland geblieben, dann wären sie immer noch am Leben. Pater Brody, Jay und ihre Mutter. Die kleine Schwester. Der Schmerz schwoll in ihrer Brust an. Eine vielschichtige Trauer um alles, was sie verloren hatte, und alle, die sie nicht behalten durfte. Sie war geboren, um ständig auf der Flucht zu sein.

      Vorher war sie wenigstens nicht ganz allein gewesen. Sie hatte Kuro gehabt. Einen Freund, der wusste, dass sie die Wahrheit sagte, weil sie zusammen hergekommen waren. Sie hatten ein ›Wir‹ gebildet. Jetzt gab es nur noch sie.

       Und den Blinden …

      Sie musste hier weg. Sie musste zurück zum Gewächshaus, bevor ihn jemand fand. Bevor er allein herumlief. Nackt. Und ohne etwas über diesen Ort zu wissen, so wie sie bei ihrer Ankunft.

      Hirka öffnete die Augen. Eine Lampe mit grünem Schirm summte auf dem Nachttisch. Sie hatte immer noch ihre Kleider an, aber jemand hatte sie zugedeckt. Das musste er gewesen sein. Der Mann, der sie überfallen hatte. Und sie gerettet hatte. Der Mann mit dem Kapuzenpullover. Es roch nach Rauch. Hirka drehte sich vorsichtig um. Er saß auf einem Stuhl beim Fenster und starrte in den grauen Himmel. Die Kapuze war heruntergezogen und sein braunes Haar stand vom Kopf ab wie dickes Gras. Die Spitzen waren von der Sonne gebleicht. Er sah jetzt wie ein anderer aus. Jetzt, da sie wusste, dass er ihr nichts tun würde.

      Seine Hand trommelte auf der Armlehne. Zwischen den Fingern steckte eine brennende Zigarette. Jay hatte auch geraucht, aber heimlich, damit ihre Mutter es nicht herausfand. Davon starben Leute, hatte sie gesagt. Aber das hatte Jay nicht umgebracht.

      Der Mann warf ihr einen kurzen Blick zu und zuckte zusammen, als er sah, dass sie wach war. Er drückte auf seinem Mobiltelefon herum. »Es ist vier Uhr nachmittags«, erklärte er. »Du hast ein paar Stunden geschlafen.«

      Hirka setzte sich im Bett auf. Die Leute hier waren von Zeit wie besessen. Als gebe es nie genug davon. Sie musste nur aus dem Fenster gucken. Der Himmel zeigte an, wie lange sie geschlafen hatte. Sie brauchte die Zeit nicht in noch kleineren Stücken.

      Sie stand auf und trat ans Fenster. Sie war hoch oben. Ein Stück entfernt sah sie die Kirche, umgeben von Autos und blinkenden Lichtern. Sie konnte nicht erkennen, wie viel davon noch übrig war, aber der Turm stand noch. Schwarz vor Ruß. Leute hatten sich in Gruppen vor dem Portal versammelt. Lagen sie immer noch da drinnen? Pater Brody und die anderen?

      »Setz dich«, sagte der Mann und zeigte auf den anderen Stuhl. Hirka tat, was er sagte. Sie hatte ihn schon genug geärgert, weil sie ihn gezwungen hatte, in der Stadt zu bleiben, nicht wegzufahren. Sie hatte ihm nicht einmal erzählen können, warum es so wichtig war. Aber er hatte sich darauf eingelassen. Aus Gründen, die bestimmt keiner von ihnen verstand.

      Er holte seine Waffe heraus. Ein schwarzes, abgewinkeltes Metallstück, das jetzt viel hässlicher war, seit sie wusste, wozu man es benutzte. Er legte es auf den Glastisch zwischen ihnen.

      »Ich gehe davon aus, dass du nicht die geringste Ahnung hast, was das hier ist, oder?«, fragte er. Hirka gab keine Antwort. Sie wusste es und wusste es auch wieder nicht.

      Seine Füße wippten nervös auf und ab. Er trug eine blaue Hose aus dickem Stoff. Die hatte einen besonderen Namen, an den sie sich aber nicht mehr erinnern konnte. Von denen kamen im Armenhaus viele an und die meisten waren in besserem Zustand als seine, die Löcher an den Knien hatte und unter den Taschen dünn gescheuert war. Er beugte sich auf dem Stuhl vor.

      »Kein Mensch reagiert nicht auf eine Glock an der Schläfe. Keiner.«

      Er zog an der Zigarette und drückte sie danach in einem Glas aus, obwohl sie noch nicht zu Ende geraucht war. »Aber du«, sagte er und musterte sie. Er war vielleicht doppelt so alt wie sie. Seine Augen waren braun wie das Haar. Sie erkannte den blassen Streifen an der Lippe wieder, eine Narbe, die sie etwas nach oben zog. Unter den Bartstoppeln fast nicht zu sehen.

      »Wie kommt es also, dass sich eine Jugendliche mit der Mündung am Kopf nichts anmerken lässt? Das frage ich mich. Und weißt du, was? Mir fallen nur zwei mögliche Antworten ein.« Er lehnte sich wieder zurück. »Entweder hat sie so eine Situation schon so oft erlebt, dass sie sich beherrschen kann und nicht um ihr Leben bettelt. Was unwahrscheinlich ist. Oder aber sie kapiert ganz einfach nicht, was los ist. Also: Das hier ist eine Glock 19. Eine Neun-Millimeter-Handfeuerwaffe. Eine Pistole. Aber du hast keine Ahnung, was das ist, oder?«

      Hirka glaubte, dass sie verstand, was er sagte, obwohl die Hälfte der Wörter für sie neu war. Glock? Pistole? Sie schaute die Waffe auf dem Tisch an. »Das ist eine Waffe. Die tötet Leute«, antwortete sie und zuckte mit den Schultern in dem Versuch, sich den Anschein zu geben, als spreche sie schon ihr Leben lang über solche Dinge.

      »Ja, das weißt du jetzt. Aber das wusstest du vorher noch nicht, oder?«

      Hirka schüttelte den Kopf. Es war sinnlos, so zu tun, als wüsste sie Dinge, von denen sie keine Ahnung hatte. Der Mann hatte ihr trotzdem geholfen, wenn auch offenbar widerwillig.

      »Genau. Und du bist vorher noch nie Fahrstuhl gefahren?«

      »Fahrstuhl?«

      »Hotelfahrstuhl. In dem wir rauffuhren, als wir hier ankamen.«

      »Aha … nein.«

      »Und du hast auch keine Ahnung, was die hier wert sind?«

      Er ließ drei Steine auf den Tisch rollen. Es waren ihre. Die hatte er ihr weggenommen. »Das sind meine!« Hirka griff nach ihnen. »Sie waren ein Geschenk«, fügte sie hinzu und schaute ihn vorwurfsvoll an. Er war hier der Dieb. Nicht sie.

      »Das heißt also nein? Du hast keine Ahnung, was sie wert sind?«

      »Doch. Oder … nein, nicht hier.«

      »Genau. Und das ist ja das Interessante, oder? Du weißt, was sie woanders wert sind, aber nicht hier. Dann habe ich da noch eine andere Frage.« Er beugte sich wieder vor. »Wo zum Henker kommst du her?«

      Hirka biss sich auf die Lippe. Zu erzählen, woher sie kam, brachte nie etwas Gutes.

      »Hast du was zu trinken?«, fragte sie.

      Kurz machte er ein ratloses Gesicht. Als habe ihn noch nie jemand um so etwas Einfaches gebeten. Doch er stand auf und ging ins Badezimmer. Hirka warf einen Blick auf die Ausgangstür. Sollte sie versuchen zu fliehen? Das hier war vielleicht die beste Gelegenheit, die sich ihr bieten würde … Sie spannte sich auf dem Stuhl an, hatte aber schon zu lange gewartet.

      Er kehrte zurück und stellte ein Glas Wasser vor sie hin. Hirka trank es bis auf den letzten Tropfen aus. Er fragte nicht, ob sie mehr haben wollte.

      »Hast du die jemandem gezeigt?«, fragte er. »Die Steine?«

      Sie schüttelte den Kopf.

      »Aber ich habe das getan. Und ich würde gut auf sie aufpassen, wenn ich du wäre. Fuck, was für eine Verschwendung. Mit denen da könnte ich in Rente gehen und du hast keinen blassen Dunst. Ich sollte sie mir nehmen, das sollte ich machen.«

      »Das hast du doch auch.«

      »Fuck …« Er schaute hinaus auf die Lichter, die weiter weg bei der Kirche blinkten. »Ich dachte, die gehören denen. Ich dachte, du hättest was mit denen zu tun. Aber du hast auch keine Ahnung, wer die sind, oder? Du hast noch nie was von Vardar gehört? Oder von den Vergessenen?«

      Sie schüttelte den Kopf. Er rieb sich das Gesicht mit der einen Hand. Er sah müde aus.

      »Wie heißt du?«, fragte Hirka und zog auf dem Stuhl die Füße unter sich hoch. Sie wäre am liebsten irgendwo hochgeklettert, doch es gab nichts, worauf sie hätte klettern können. Er lächelte schief. Dadurch sah er anders, fast freundlich aus. Das hatte sie nur nicht sehen können, solange er ein gefährlicher Feind war. Was er vielleicht auch immer noch war. Sie wusste es nicht. Jedenfalls war er alles andere als ein Freund.

      »Stefan. Ich heiße Stefan Barone.« Er sah aus, als sei er über seine eigene Antwort erstaunt. Sie hoffte, dass es daran lag, dass er die Wahrheit sagte.