Stumm die Stube. In dem stillen Raum noch die alte Zeit. Da im Winkel noch eine seitwärts gepuderte und gerollte richtige Lockenperücke auf verrunzeltem Gesicht. Eine Quarréeperücke daneben, löwenähnlich in ihrer mähnenartigen Fülle. Kurzgeknüpfte Perücken mit angesetztem Zopf. Geschwärzte Haarbeutel. Hier wusste man noch nichts von der Mode der jungen Männerwelt, sich den Kopf bubenhaft kurz zu scheren.
Die gleiche dumpfe Starrheit auf den bartlosen, harten Zügen all dieser alten Preussen. Sie achteten, in ihre Gedanken verloren, kaum auf den jungen Mann, der hastig eintrat, sich umsah, auf den einen Würdenträger am Fenster hinstürzte und ihm atemlos, mit leuchtenden Augen, den aus der Fracktasche gerissenen Brief hinhielt.
Der Graf Josias von Möllenbeck, Herr auf Mariengarten, Geheimer Rat, ehemals Minister des Preussischen Generaldirektoriums, hob langsam das tief ernste, strenge Antlitz mit der rechthaberisch gebogenen Nase, den klugen, grauen Augen, dem feinen Mund des achtzehnten Jahrhunderts, der durch die herrische Kinnwölbung doch preussisch wirkte. Er war ein Mann zu Anfang Fünfzig. Er gab dem Kandidaten Wisselink wortlos die Hand, öffnete die Siegel, holte ein gestieltes, langes Monokel aus dem Schlitz seines perlmutterfarbenen Gilets unter der weissgebauschten, baumwollenen Halsbinde hervor, las, ohne dass seine Mienen sich veränderten . . .
„Exzellenz . . . ich musste leider einen Umweg über Königsberg . . .“
Eine Handbewegung drüben . . . der hohe Staatsdiener schaute, als ob er die Worte kaum verstanden hätte, vor sich ins Leere . . .
„Es ist schon gut . . .“, sagte er wie geistesabwesend. „Es ist zu spät . . .“
Und plötzlich . . . der junge Juel Wisselinck traute seinen Augen nicht . . . Aber es war so: Er sah nur noch den kurzen, gepuderten Zopf vom Haupt seines Patronatsherrn. Der Herr Graf von Möllenbeck, die hochgebietende Exzellenz, hatte beide Hände an die Schläfen und die Stirn vornüber auf die Kante der Fensterbrüstung gepresst und schluchzte auf. Er weinte — ein Preusse wie er, dem keiner, der ihn kannte, eine Träne vor fremden Augen zugetraut hätte — er weinte . . . Und seltsam . . . Die andern wunderte das nicht . . . Der Kandidat Wisselinck sah ringsum feuchte Augen, zwinkernde Lider in den verwitterten Gesichtern . . .
Er hatte das Gefühl, dass er, der junge Bürgerliche, hier zu viel war, wo Preussens Adel weinte. Er schlich auf den Fussspitzen hinaus, wie aus einem Sterbezimmer, er tastete sich die dunkle Treppe hinab, er trat, beinahe taumelnd, auf die taghelle, sonnenheisse Strasse. Unwirklich erschien ihm das alles da draussen: Fremdartige Uniformen von abenteuerlichem Schnitt. Französische Laute umher, italienische, polnische. Sächsisches und bayerisches Soldatendeutsch. Eine hundertfache Wägelchenburg geflüchteter litauischer Bauern auf dem mit Stroh und Heu überstreuten Markt. Dazwischen grüne russische Uniformen des Preobraschenski-Regiments aus dem dem Zaren eingeräumten Stadtteil, die goldbetressten Federhüte und roten Grenadiermützen des Potsdamer Ersten Bataillons Garde vom Tilsiter Absteigequartier des Königs von Preussen — die bisherigen Feinde schon im Strassenbummel zwischen der erregten Bürgerschaft nebeneinander. Der Friede nah . . .
Dann flog dem Rechtskandidaten Wisselinck aus einem ebenerdigen Fenster eine puderstäubende Perücke an den Kopf. Ein wilder Kerl, in seinem Alter, lang und blond wie er, sprang hinterher und schlug ihm auf die Schulter und zerquetschte mit seinen hohen Sporenstiefeln die Perücke in der Gasse wie eine tote Ratte.
„Dies ist ein Stück vom Haubenstock meines Onkels da drinnen, der sich vor den Welschen im Bett verkrochen hat! Diesen edelsten Teil von ihm opfere ich der Vergangenheit!“ schrie er und schüttelte seine eigene, frei flatternde Haarwirrnis. „Zur Hölle mit allem, was die Motten fressen! In den Dreck die Hasenherzen, die uns verraten! Jetzt eben, in diesem Augenblick, unterzeichnen sie dort im Schloss den zum Himmel stinkenden Frieden! Alles, was bis heute war, ist nicht mehr! . . . Nichts ist mehr . . . Aber wir sind noch da . . Du bist nur eines Hufschmieds Sohn, Juel, ich nur der eines Pächters und ein simpler Gutsscholar . . . Rotzbuben sind wir — aber Preussen sind wir — so gut wie die grossen Herren!“
„Mach’ dem Franzosen Platz, Sandkuhl!“
Ein goldbetresster Pariser Veliten-Kapitän eilte, eine Mappe unter dem Arm, freudestrahlend, achtlos vom Schloss her an den Beiden vorbei. Der Landwirt Friedrich August Sandkuhl war zähneknirschend an die Hausmauer getreten.
„Aber es ist nicht mehr an dem, dass die Kavaliere und Offiziere sich von uns abscheiden!“ fuhr er fort. „Die Bürgerlichen unter den Offizieren nicht mehr! Die Artilleristen nicht mehr! . . . Kennst du den Tiedecke?“
Der im blauen Frack nickte. Er sah vor sich den fanatischen, fahlen, jungen Leutnant im wildflatternden Mantel oben auf dem Kanonenhügel ob Tilsit.
„Wie er, Juel, denken viele! Auch vom Adel! Wir jungen Kerle müssen handeln, wenn die da oben — hoch da oben — die Nation verraten! Schnell handeln! Es ist Grosses im Werk . . . Du gehörst zu denen, die wir ins Vertrauen ziehen! . . . Ha — da kommen sie — die Totenvögel Preussens!“
Der rosige Siebziger, an der Spitze eines Adjutantenund Ordonnanzgefolges, lächelte leichthin und hochmütig, als sei nichts Besonderes soeben im Schloss zu Tilsit passiert. Er hatte den leichten, tändelnden Schritt eines Hofmanns und einstigen Frauenlieblings. Das düstere Bürgervolk umher war ihm Luft. Er plauderte, sonnenflimmernd in der goldenen Eichblattstickerei seines Generalfracks, angelegentlich mit seinen Offizieren. Schweigend, in steifer, bleicher Würde, ging neben dem General Grafen Kalckreuth der andere Graf, der mit ihm den Frieden von Tilsit unterzeichnet hatte, der neugebackene Minister von der Goltz.
„Man wird dich verhaften, du Lorbass, wenn du so herausfordernd ausspuckst!“ murmelte Juel Wisselinck zwischen den Zähnen. Der wilde Sandkuhl wirbelte jäh herum und pflanzte einem jungen Mann vor ihm seinen breiten Handteller platschend auf die Backe.
„Was hat er eben gewinselt, der Herr Licentbuchhalter Baldamus?“ schrie er in seinem wilden Ostpreussisch. „Alles sei perdü? Nur den lieben Frieden wolle der Untertan?“
„Ich lasse mich nicht von Ihnen misshandeln . . .“
„An diesem Frieden sollt ihr noch würgen, ihr Schneiderseelen . . . halt ihn, Juel . . . das Krät entwischt . . . Juel, Mannchen, wo bist du?“
Aber des Freundes blauen Frack hatte schon, um die Ecke herum, das Kriegsgetümmel verschluckt. Durch das schritt Juel Wisselinck dahin, steifbeinig vom Reiten, ziellos, wie im Traum. Stand, mit geballten Fäusten, bleich und erschöpft am Ausgang der Stadt. Sah draussen in der Ebene, gegen Insterburg hin, überall die abgedeckten Dächer, die fensterlosen Häuser der Dörfer. Aus ihrem Holzwerk, ihren Fenstern und Türen waren da im Süden, rund herum um Tilsit, neue Lagersiedlungen der Grossen Armee aus den zerstampften Weizenfeldern gewachsen. Galoppierende Farbenpunkte leuchteten auf dem sterbenden Gelb. Ferne Trompeten schmetterten Freudenfanfaren: der Friede von Tilsit! . . Im Wind verweht, als Widerhall aus den Biwaks, ein dumpfes, zehntausendstimmiges: „Vive l’Empereur!“ Das Jauchzen der Marseillaise . . . Immer weiter rollend, unbestimmt wie das Brausen von Bienenstöcken, der Jubel der Polen, der Italiener, der deutschen Hilfsvölker der Könige von Sachsen und von Bayern. Der Königsberger Rechtskandidat fuhr sich mit der Hand über die Stirne. Schaute leer umher, fand sich plötzlich wieder vor dem Haus des Armee-Kommissarius Magenhöfer. Hob schleppend die müden, bespornten Beine zu der düsteren Paradestube im ersten Stock empor.
Zwischen den leeren Mahagonisesseln stand, in der Dämmerung des grossen Raumes, der Geheimrat Graf Möllenbeck. Allein. Jetzt wieder ganz er selbst. Ein Stück Preussen wie sonst. Hart sein Händedruck, fest die Züge, knapp die Sprache, stählern grau die Augen.
„Sie haben mich vorhin marode gesehen, Juel!“ sagte er. „Vergessen Sie’s! Es wird nicht wieder vorkommen! Heute starb Fridericus! Wer weiss, was uns heute geboren wurde! Ein timider Preusse