Christines Weg durch die Hölle. Robert Heymann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Heymann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711503683
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Mütze schief im Gesicht.

      „Papiere, bitte,“ sagt der Petljura-Offizier. Ein Denikin-Offizier, die Initialen D. auf den Achselklappen, begleitet ihn.

      Auf dem Korridor warten Soldaten. Der Bahnsteig ist besetzt. Es ist also wirklich Ernst, denkt Christine und ist glücklich, von ihren Gewissensqualen so schnell befreit zu sein. Sie hätte keine Ruhe mehr gefunden. Sie sieht, wie Odojewskij Michaels Ausweis hinreicht und mit einer lässigen Handbewegung zur Gräfin hin sagt:

      „Meine Frau!“

      Der Offizier betrachtet lange das Dokument mit Stempel und Unterschrift eines längst verschollenen Divisionskommandanten des Zaren. Reicht es zurück.

      Der neue Reisende, der inzwischen schweigend auf dem Korridor gewartet hat, tritt ein. Christine begreift plötzlich die Gefahr, in die sie sich und Michael gebracht hat. Eine drückende Angst presst ihren Atem zurück.

      Der fremde Herr grüsst. Der Hauptmann streift ihn mit einem schnellen Blick. Stutzt und lächelt. Er kennt ihn.

      Weiss: Mac Lee. Detektiv und Führer der russischen Konterspionage. Hat nur auf den Augenblick gewartet, wo er Alexeij Odojewskij verhaften konnte.

      Hauptmann Odojewskij ist aber momentan Graf Michael Kusmetz. Mac Lee weiss nicht, dass der echte Kusmetz sich im Zuge befindet. Er darf kein Aufsehen erregen, sonst greift er wieder in die Kompetenzen des französischen Oberbefehlshabers in Odessa ein.

      Während Mac Lee seine Ledertasche verstaut, winkt Odojewskij Christine zu:

      „Ich komme gleich wieder ...“

      Christine erschrickt über den drohenden Ausdruck des zweiten Reisenden, der sie finster mustert. Mein Gott, schiesst es ihr gleichzeitig durch den Kopf, nun gibt es in dem Zuge ja zwei Grafen Kusmetz!

      Und da tritt Michael ein. Ihre Gedanken beginnen sich zu verwirren. Michael legt in Gegenwart des Fremden den Arm in den ihren und bittet sie wegen seiner langen Abwesenheit um Entschuldigung.

      Was soll der Mann ihr gegenüber denken?

      Zum Glück geht er hinaus. —

      Odojewskij ist, kaum dass er den Wagen verlassen hatte, den Korridor entlang gelaufen. Er sah Michael kommen. Trat schnell in ein leeres Kupee, eilte weiter.

      Mac Lee ist schon draussen auf dem Bahnsteig und weist dem Kommandanten seine Legitimation mit Petljuras Unterschrift vor.

      Odojewskij steht an einem Fenster, knapp neben dem Wagen des Generals, und beobachtet Mac Lee.

      Er sieht, wie die Offiziere in seiner Begleitung nochmals erregt den Zug betreten. Alle Wagentüren werden plötzlich geschlossen, die auf dem Bahnsteig befindlichen Reisenden von Soldaten umzingelt.

      Odojewskij öffnet die Tür zum Wagen des Generals und stösst auf den Adjutanten.

      „Verzeihung,“ sagt er. „Graf Kusmetz bittet Sr. Exzellenz um Unterstützung. Man will ihn verhaften.“

      Der Adjutant meldet es dem General. Dieser erhebt sich sofort.

      „Ein Irrtum!“ hört ihn Odojewskij sagen. Als der Adjutant mit dem General vorüberkommt, kann er den Herrn, der die Meldung überbrachte, nicht mehr entdecken. Aber der General hört erregte Stimmen. Der ganze Zug ist in Aufregung.

      Er begibt sich in Begleitung seines Adjutanten und mehrerer Ententeoffiziere nach dem Kupee des Grafen.

      In diesem Augenblick öffnet Odojewskij die Tür zum andern Gleis, das dunkel daliegt, und verschwindet in der Nacht.

      Michael, ohne Pass, benahm sich inzwischen ganz rabiat und rief immer wieder seine Frau als Zeugin an, und Christine beschwor, Michael sei ihr Gatte, worauf der Offizier erklärte, sie habe offenbar zwei Gatten, und er müsse sie nun gleichfalls verhaften.

      In diesem kritischen Moment erschien der General und bürgte in eigener Person für Michael und seine Gattin.

      „Und der Herr, der Sie zuerst als Gattin anredete, Gräfin?“ fragte der Kommandant.

      „Ich weiss von nichts, denn ich schlief,“ log Christine in ihrer Verzweiflung. Mac Lee schwieg.

      Der Zug wird abgelassen.

      Im selben Moment ist Odojewskij auf dem anderen Gleis.

      Vom Schlusswagen her nähern sich eben Soldaten im Laufschritt, um ein Entkommen nach dieser Seite hin unmöglich zu machen.

      Ein Schrei belehrt Odojewskij:

      Man hat ihn gesehen.

      Mit der Schnelligkeit einer hundertstel Sekunde muss ein Ausweg gefunden sein. Er schnellt vor. Sein Schatten taucht unter in der Nacht. Er kriecht unter einen Pullman-Car. Zwischen der Kuppelung hinunter. Unter den Waggon. Soldaten stecken die Köpfe zwischen den Rädern durch. In der Dunkelheit sehen sie nichts. Einer kommt bis zu Odojewskij. Schaut. Erkennt. Ein Moment Zaudern wird sein Verhängnis. Odojewskijs Hände umspannen den Hals des Soldaten. Seine Augen quellen in übermenschlicher Anstrengung aus den Höhlen wie die des weissen Soldaten, dem er den Atem abschneidet. Mit der Kraft eines Raubtieres reisst er ihn völlig unter den Wagen. Denn die Beine des Röchelnden schlagen wild auf das Pflaster.

      „Keine Spur,“ meldet ein Offizier dem Ortskommandanten.

      Der befiehlt dem Lokomotivführer, heissen Dampf abzulassen.

      Odojewökij unter dem Wagen stösst die Leiche des Soldaten von sich. Steckt den Kopf in die ausgebreiteten Arme. Wenn die Dampfventile sich öffnen, ist er verbrüht. Er kennt die Geschichte von dem Juden, der auf der Flucht vor Petljuras Häschern sich unter der Lokomotive versteckt hielt. Der ausströmende Dampf höhlte ihm die Augen aus. —

      Aber kein Dampf zischt. Hat der Lokomotivführer vergessen? Dieser Mann auf der Lokomotive steht mit flackernden Augen da und wartet. Mit unheimlichen Blicken mustert er die Offiziere.

      „Ab!“ schreit der Bahnhofskommandant. Der Zug rollt aus der Station.

      Die Lichter erlöschen. Es muss gespart werden mit Licht. Die Bolschewiki sollen auch schon Flieger haben. Niemand sieht den leblosen Körper des ermordeten Soldaten auf dem dunklen Gleis.

      Es ist Anfang des Jahres 1919. Der Himmel grau, fahl, voller Schnee. Schnell fällt die Nacht über das Land. Mac Lee hat den ganzen Zug abgesucht, aber den Flüchtling nirgends finden können. Er hat Beweise, dass Hauptmann Odojewskij, der in die Petljuraarmee eingetreten war, zur roten Armee Beziehungen unterhielt. Er weiss von seinen Spionen, dass dieser Abenteurer ein Schreiben seines ehemaligen Regimentskameraden, des Ataman Grigorjew, bei sich führt.

      Dieser Grigorjew ist der verwegenste Partisanenführer der Ukraine. Und dieses Schreiben muss gefunden werden, ehe Hauptmann Odojewskij in Odessa im Schutz des französischen Ober-Kommandanten sich dem Zugriff entziehen kann. Denn noch mehr weiss Mac Lee: Odojewskij führt Perlen mit sich, mit denen er die weissen Soldaten bestechen will.

      Der Zug rast durch die Nacht. Unter einem der Wagen aber kauert auf der Bremsvorrichtung Hauptmann Odojewskij. Nur ein Mensch, der trotz seines schlanken Körperbaues über so ungewöhnliche Kräfte verfügt wie dieser verwegene Abenteurer, ist imstande, solche Teufelsfahrt zu bestehen.

      Gefrorene Schneestücke verbeulen seine Augen. Kleine Steinchen, hundertfach hoch geschleudert von der Schnelligkeit des rasenden Zuges, trommeln gegen sein Gesicht. Die Räder rattern, rufen, heulen, brüllen, eine Symphonie der Hölle ist um ihn.

      Unsichtbare Hände drohen ihn herabzuziehen von dem kleinen Raum unter dem Bauch des Wagens. Schwer atmend hängt Odojewskij über den Schienen. Unter seinen Blicken fliegt der Erdboden vorbei. Wirbelnde Eisstücke peitschen, zerreissen, verwunden immer wieder sein Gesicht und seine Hände. Aber er hält stand, bis die erste Morgenröte kommt, der Zug langsamer fährt und das französische Okkupationsgebiet erreicht ist.

      Hier ist er sicher. Denn er ist ein geschätzter Kundschafter des kommandierenden Generals d’Anselm, der ihm kein Haar wird krümmen lassen. Nur Beweise darf Mac Lee nicht finden.

      Eine Militärstation.