Christines Weg durch die Hölle. Robert Heymann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Heymann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711503683
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schützende Bäume gestellt.

      Sie will fliehen, aber es ist schon zu spät. Er umfasst sie ...

      „Verstehst du, Christine, dass ich dich immer noch liebe? Dass ich nicht verzichten werde?“

      Seine grossen, weissen Zähne funkeln sie an. Sie schreit laut. Sie trommelt mit den Fäusten gegen sein Gesicht. Er mag schon schärfere Hiebe in ähnlichen Situationen empfangen haben. Er lacht nur. Der Wind bauscht ihre Röcke. Wirft sie ihr fast über den Kopf. — Macht sie hilflos und steigert seine sinnliche Wut. Wie ein Schraubstock pressen sich seine Arme um sie, ihr Kopf sinkt zurück, sein Atem geht über ihre Lippen und schon fühlt sie sich schaudernd als Beutestück — eines der tausendfachen in dieser wüsten, verfluchten Zeit — da pfeift etwas — sss — wie Gottes Zorn über das Gebäude weg, ein furchtbarer Krach folgt, draussen gehen die Pferde durch, und Odojewskij schleudert den zuckenden Frauenleib von sich.

      „Eine Granate,“ schreit er wild. Da kommt schon der zweite, der dritte Einschlag, das Dach geht nieder, Balken stürzen umher. —

      „In den Keller! In den Keller!“ ruft Odojewskij. Christine, keines klaren Gedankens mehr fähig, stürzt zu der Falltür. Er reisst sie auf. Sie fallen hinab. In ein eisiges, dunkles Grab. Und gleich hinter ihnen her prasselt die Vernichtung.

      2

      Es war für das Dorf vollkommen überraschend gekommen. Niemand hatte Zeit, etwas in Sicherheit zu bringen, aber das tat auch nicht not, denn die Bande, die mit Geheul, eine Rotte Korahs, auf kleinen Wagen stehend, mit schnaubenden Pferden durch die Dorfstrasse jagte, waren Machnoleute, Soldaten des Bauernvaters, der es weder mit den Weissen noch mit den Roten hielt, der die Welt erlösen und den Bauer frei machen wollte.

      Gehetzt und gejagt und gesucht ist er, der „Befreier“. Er hat den Gutsbesitzern ihre Länder und ihre Forsten weggenommen und hat sie den Bauern gegeben. Er hat gegen die Deutschen und die Österreicher gekämpft, die nach dem Frieden von Brest-Litowsk in die Ukraine kamen. Sie haben einen hohen Preis auf seinen Kopf gesetzt, aber sie haben ihn nicht bekommen, denn seine Scharen sind flink wie die Teufel, und die Bauern beten ihn an. Er wird ein christliches Zeitalter begründen, dieser moderne apokalyptische Reiter mit dem wilden Blick und dem langen Haar über dem kranken Gesicht. Die Deutschen haben ihn gejagt wie einen Hund! Sie haben ganze Dörfer angezündet, in denen sie ihn vermuteten, sie haben das Haus seiner Mutter in Asche gelegt, sie haben seinen Bruder erschossen — aber sie haben Nestor Machno nicht fangen können.

      Da kamen die Österreicher. Denen nahm der Bandenführer die Eisenbahn ab, die das Kohlenbecken des Donez mit den Küsten des Asowschen Meeres verbindet. Hier lag er auf der Lauer und fing die Reisenden ab, die grossen Handelsherren, die mit Kohle, Salz und Naturalien zu tun hatten, erpresste Lösegelder, raubte, mordete und organisierte seine Bande immer besser. Auf den zweirädrigen Tatschanki, auf denen immer ein Maschinengewehr montiert war, sassen je zwei seiner Leute. Über tausend solcher Karren verfügte Machno, seit er einen grossen Train der Österreicher aufgehoben hatte. Mit diesen tausend Kriegswagen rast er durch die Steppen, taucht heute hier, morgen dort auf, entzieht sich allen Nachstellungen, kämpft mit allen Truppen, heute mit denen Petljuras, morgen mit denen Trotzkis, am fanatischsten gegen die Weissen, und hält die ganze Ukraine in Atem.

      Aber diesmal ist ihm ein Trupp weisser Soldaten auf den Fersen. Er hat die Eisenbahn zerstören wollen, da kommt ein Panzerzug aus Odessa angerast, und plötzlich sah er sich von Artilleriefeuer bedroht. Wie der Blitz flüchtet er nun. Seine Wagen ratterten durch das Bauerndorf, während die Russen hinter ihm herschiessen.

      Während der Kampf zwischen den Weissen und den „Grünen“, wie sich Machnos Anhänger nennen, mit der Flucht der Grünen endet, hört Christine, eingeklemmt zwischen Balken und Mauerwerk, in weiter Ferne die Einschläge schwerer Minen und das helle Gewehrfeuer. Sie kann sich nicht rühren, wähnt den Hauptmann erschlagen. Sie ruft, aber keine Antwort folgt.

      Tschschsch ... Bum! Krach! macht es über dem Haupt Christines. Ein neuer Einschlag wirft das Wirtschaftsgebäude völlig in Trümmer, der Keller scheint nachzugeben. Christine glaubt zu sinken ... tiefer und tiefer ...

      Michael muss um diese Zeit zurückkehren, schiesst es ihr durch den Kopf. — Jähe Angst um ihn packt sie ... er wird mitten in den Kampf geraten ... er wird vielleicht daran teilnehmen, wird sich verleiten lassen ... wie hasst er diesen Machno, den er einen Wahnsinnigen nannte, einen Gottlosen, einen Anarchisten.

      Wird mich Michael noch finden?

      „Michael!“ ruft sie mit dem Aufgebot ihrer ganzen Kraft. Aber hohl und leer klingt es in ihrem Grabe wider. Der Hauptmann gibt keinen Laut mehr von sich.

      Wie ein Schleier sinkt halbe Bewusstlosigkeit über Christine. Michael ist in das Dorf gekommen, als sich ein dunkler Vorhang mit rasender Schnelligkeit vom Walde her den ersten Häusern näherte.

      Die Bauern wussten sofort: „Überfall!“

      Zuerst dachte Michael an die Bolschewiki. Er wollte ins Schloss, Christine holen. Aber der erste Bauer, der ihn sah, riss ihn vom Woge ab und hinein in die Hütte.

      „Auf den Ofen, Väterchen,“ schreit er, schiebt, stösst, drängt Michael über die kleine Leiter auf den hohen Ofen, wirft alte Pelze über ihn. „Zudecken, Väterchen, den Kranken spielen!“

      Sie lieben Michael. Sie lieferten ihn nicht aus. Was kümmert es die Bolschewiki, dass er einst für das unterdrückte Volk gekämpft, gelitten hat? Ihnen ist er ein Bourgeois, ein verhasster Bürger, ein ehemaliger Aristokrat. Wenn sie auf der Flucht sind, die Roten, erschiessen sie kurzerhand, wer ihnen irgendwie verdächtig erscheint. Und ein Adeliger ist verdächtig!

      Jetzt hört Michael schon das wilde Schnauben der Rosse, das Geschrei, er hört Schüsse und denkt mit verhaltenem Atem an Christine. — Doch er verriete sie, wenn er jetzt versuchte, ins Schloss zu gelangen. Sie werden es für unbewohnt halten ... Angeber gibt es hier nicht, denn es sind keine armen Bauern da. Sie besitzen alle gleich viel. Sie bilden keinen Ortssowjet: Ehemalige Besitzlose, die mit Neid und Hass auf die Besitzenden schauen und willige Verleumder und Verräter sind.

      Jetzt schlägt die erste Mine ein. Michael fährt hoch.

      Was ist das? Wer schiesst hier mit Minen?

      Gruben die Bolschewisten sich ein? Sind die Weissen so nah? Er war doch den ganzen Tag unterwegs und hat nichts gesehen noch gehört! Kein Bauer wusste etwas zu erzählen von einem Vormarsch der Weissen. Kein Bolschewist hatte sich seit langer Zeit sehen lassen. Nur die Banden des roten Grigorjew, des ehemaligen Gardeoffiziers, der geschworen hat, Odessa zu erobern, sollten heraumarschieren.

      Waren es die Horden Grigorjews?

      Die Luft ist erfüllt von ohrenbetäubendem Lärm: Geheul, Einschlagen der Minen, Knattern der Gewehre. Aber es ist ein Lärm von vielen fliehenden Pferden. Die Bande nahm sich nicht Zeit, haltzumachen. Wieder der Einschlag. Nun wird es stiller und stiller. Und dann liegt wieder Grabesstille über dem Dorf.

      Michael springt von der Ofenbank herab. Bauern kommen, sich bekreuzigend.

      „Machno,“ sagen sie.

      Den fürchtet Michael mehr als alle anderen. Ohne sich Zeit zu nehmen, dein Bauer zu danken, stürmt er durch den eisigen Wind dem Schloss entgegen.

      Alles ist dunkel und still. Gott sei Dank, keiner der Marodeure ist auf den Gedanken gekommen, Nachschau zu halten. Sie sind im Walde verschwunden, wie sie kamen, und wer weiss, wo Machnos Räuber morgen wieder auftauchen werden.

      Michael eilt zur verschneiten Freitreppe. Er ruft, stürzt hinauf, durch die Korridore, die kalt und schwarz liegen, nur vom Mondschein beleuchtet, ruft und ruft und bekommt keine Antwort.

      Da sieht er durchs Fenster das zertrümmerte Wirtschaftsgebäude. Fiebernde Angst fasst ihn. Er rennt hinaus. Er wühlt mit den Fäusten in den Trümmern, ruft den geliebten Namen. Von Ferne tönt Antwort. Leise, kaum hörbar, aber die Nacht ist so still im Schnee, dass er doch Christines Ruf aus der Tiefe vernimmt ...

      Er versucht, die Balken zu heben. Umsonst!

      Er