Als der blasse Jüngling hörte, dass sie ‚herbestellt’ seien, meinte er in erheblich freundlicherem Tone, wenn die Sache so läge, sei es ja etwas anderes. Dann sah er sich die Jungen noch einmal an; es schienen doch gelinde Bedenken in ihm aufzusteigen. Nachdenklich wandelte er durch den langen Raum, besann sich eine Weile und klopfte dann schliesslich doch zaghaft an die Tür zum Allerheiligsten. Eine gestrenge Bassstimme rief: „Herein!“, und nun stand er vor dem Allgewaltigen und stotterte, da draussen seien fünf Jungen, die behaupteten, von Herrn Timm herbestellt zu sein, um das Zeug von Hein Smidt abzuholen.
Und nun geschah das Unglaubliche! Der Chef forderte diese Strassenbengel auf, zu ihm ins Privatkontor zu kommen!
Im Gänsemarsch wanderte Thedje mit seinem Gefolge durch das grosse Kontor. Scheusslich peinlich war ihnen der Gang, denn alle starrten ihnen nach und grinsten.
Endlich standen sie in aller ihrer Schäbigkeit vor dem ‚Manne mit dem Backenbart’. Der guckte sie der Reihe nach an, schmunzelte und fragte schliesslich: „Na, heraus mit der Sprache, was wollt Ihr?“
Betretenes Schweigen? — Thedje drehte verlegen seine Mütze in der Hand; die übrigen ‚Jakobiner’ blickten stumm auf ihren Führer und hielten es für ihre Pflicht, ihre Mützen ebenfalls im Kreise herumzudrehen.
Der Alte räusperte sich vernehmlich. Da nimmt Thedje einen Anlauf und sagt: „Der Heini — —“ weiter kam er nicht.
Nach einer Weile knurrt der Reeder ungnädig: „Na, was ist mit ihm?“
Da verlässt den Wortführer der Mut. Wohl bewegt er den Mund, klappt ihn auf und zu, aber er bringt keinen Ton über die Lippen.
Der ‚Mann mit dem Backenbart’ schüttelt unwillig den Kopf. Dann fragt er: „Und Ji sünd Hamborger Jungs?“
„Gott sei dank!“ rufen sie wie aus einem Munde.
„Na, denn seggt doch, wat Ji wüllt!“
Der Olle sprach Platt — Hamburger Platt! — Das löste die Zungen, und alle Fünf antworteten gleichzeitig: „Hein Smidt sien Plünnen wüllt wi wedder hebben!“
Diese Art schien dem Prinzipal zu gefallen. Er grinste vergnügt und sagte dann mit der ernstesten Miene der Welt: „Nein, so kostbare Kleider kann ich nicht an irgendjemanden weggeben; aber wenn der Berg nicht zu Mohamed kommt, so bleibt Mohamed wohl nichts anderes übrig, als zum Berge zu kommen. Das bestellt man Eurem Hein Smidt!“ — Dann langte er in die rechte Westentasche, holte fünf Groschenstücke heraus und drückte jedem eins in die Hand. —
Nun standen sie wieder draussen, betrachteten erstaunt ihren Groschen, doch keiner von ihnen hatte die Geschichte von Mohamed und dem Berg begriffen. Was wussten sie auch von Mohamed? Sie waren doch ‚Jakobiner’ und keine Türken!
Hinter der Gardine am Fenster aber stand der Reeder Karl Timm und amüsierte sich königlich.
Wieder befinden sich Hein Smidt und seine fünf Getreuen von der Schule auf dem Heimwege, heute aber eine Stunde früher als gestern, denn ausnahmsweise brauchte keiner von ihnen nachzusitzen. Und doch waren die Jungen in gedrückter Stimmung, denn Heini sprühte nur so vor Zorn. Heftige Armbewegungen, unterstützt durch energisches Auftreten mit dem Fusse, sollten seiner Rede den nötigen Nachdruck verleihen. Er schrie aus Leibeskräften:
„Schöne Schlappschwänze seid Ihr! Lasst Euch das Paket abnehmen, ohne meinen Anzug dafür mitzubekommen. Euch kann man gerade losschicken! — Na, dem guten Manne werde ich die Trompeten blasen! Gleich nach dem Essen gehe ich hin, und dann soll der Herr Timm aber was erleben!“
Vor so viel Heldenmut verstummten die ‚Jakobiner’ und schätzten sich glücklich, einen so unerschrockenen Führer zu haben. — —
Zur gleichen Stunde stand Adje, der ‚Löwe’, Heinis Vater, an einen Beischlag gelehnt, auf dem Hopfenmarkt. Nun war dieser Adje, trotz seines stolzen Prädikats, durchaus kein hervorragender Mann wie etwa Heinrich der Löwe! O nein, er war nur ein ganz gewöhnlicher ‚Hoppenmarkts-Leuw’ wie viele andere auch. Sie standen in Gruppen beisammen, verwahrlost aussehende Kerle mit struppigen Bärten und vom Suff aufgedunsenen Gesichtern. — Sie waren das ‚Mädchen für alles’ während der Markttage; schleppten Körbe, schoben Karren, beaufsichtigten Gespanne, fütterten Pferde, genug, sie waren für jede Handreichung zu haben. — Im allgemeinen waren sie friedfertige Gesellen, mit denen auszukommen war. Nur einen Fehler hatten sie: jeder Pfennig, der verdient wurde, musste schleunigst in ‚Köm’ umgesetzt werden.
Der hohe Turm der Nikolaikirche guckte hernieder auf das bunte Gewimmel zu seinen Füssen. Da sitzen sie, Bauern und Bäuerinnen, umgeben von hochgestapelten Körben mit Gemüsen und Früchten gefüllt; dazwischen drängt sich der Strom der Käufer: Hausfrauen, Dienstmädchen mit weissen Hauben, hin und wieder Männer und viele Kinder.
Die Fahrdämme um das breite Viereck des Marktplatzes und sämtliche Nebenstrassen sind verstopft von unzähligen Fuhrwerken und Karren.
Am Kantstein steht Adje Schmidt und hält Ausschau, ob da nicht eine Stimme ist, die ihn ruft, ob sich nicht ein Arm erhebt, der ihm winkt. Aber nein, heute ist einmal wieder rein gar nichts zu verdienen. — Ein feiner Sprühregen fällt hernieder. Er hat den Rockkragen hoch geschlagen und die Hände tief in die Hosentaschen versenkt. Er hat seinen ‚Melanklüterigen’, wie seine Kollegen sagen; und an solchen Tagen lässt man ihn am besten zufrieden. — Er hält Rückschau. Seit Jahren hat er hier seinen Platz. Es war mit ihm herauf und herunter gegangen. Als Ungelernter in einer Fabrik hatte er begonnen, Schritt für Schritt ging es vorwärts, und schliesslich brachte er es bis zum Vorarbeiter. Alles ging gut. Dann hatte er Stine geheiratet, der kleine Heini kam zur Welt, und alles im bescheidenen Heim atmete Glück und Frieden.
Der Teufel mochte wissen, wie und wo es angefangen hatte. Er fand Gefallen daran, sich mit der vollen Geldkatze am Sonnabend in die Kneipe zu setzen, bis er nach und nach nicht mehr herausfinden konnte. Wochenlohn und Ersparnisse gingen darauf, dann die Stellung obendrein; und eines Tages landete er dort, wo er jetzt steht. Der Satan sass ihm im Nacken und gab ihn nicht mehr frei. Sein Hirn war stumpf und blöde geworden; wie durch eine Nebelwand erinnerte er sich einer vergangenen, guten Zeit. Dann spürte er ein heisses Verlangen, dass es noch einmal wieder so werden möchte wie damals; er raffte sich zusammen und ging von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle. Er wollte sich wieder im Hause Achtung verschaffen. Aber wo er sich auch immer vorstellen mochte, niemand wollte den vom Suff gezeichneten Mann einstellen; und so trabte er zurück zum Markt, die Schultern eingezogen, den Kopf gebeugt, als trage er eine schwere, unsichtbare Last. — So stand er auch heute auf seinem Platz, mit zitternden Händen, nass und frierend. — Das war Adje Schmidt, des kleinen, vierschrötigen Heinis Vater! — —
Unterdessen sass Stine, Heinis Mutter, in ihrer armseligen Wohnung im zweiten Stock im Bäckergang an der Nähmaschine und arbeitete, stumm, freudlos wie ein Arbeitstier, um nur das Notwendigste zum Lebensunterhalt zu verdienen. Alles im kleinen Zimmer war blitzblank und sauber. Hier und dort stand noch eine Vase, und dieser oder jener Gegenstand erinnerte noch daran, dass die Familie früher einmal bessere Tage gesehen hatte. Ja damals! — Da war Stine noch das kräftige, lebenslustige Mädel. Was aber hatten die letzten Jahre aus ihr gemacht? Vor der Zeit war sie welk und siech geworden. Als nun alles um sie herum zusammenbrach, legte sie aber nicht etwa die Hände in den Schoss und klagte Gott und den Menschen ihr Missgeschick; nein, das hatte sie wahrhaftig nicht getan! — Zum Scheuern und Reinemachen ist sie gegangen, Sommer und Winter zog sie morgens um 5 Uhr los und besorgte ihre Kontore; ausserdem nahm sie Näh- und Flickarbeiten an. Sie schonte sich nicht, und sie schaffte es! Niemanden brauchte sie zu bitten. Sie schlug sich und die Ihren durch, oft mehr schlecht als recht, aber sie schlug sich durch! — Ihr Junge und sie, die beiden verstanden sich, und je mehr sie sich von ihrem Manne abwandte, um so fester hielten Mutter und Kind zusammen. —
Schwerfällige Schritte auf der Treppe rissen sie aus ihren Gedanken.
Es klopft, und ohne Antwort abzuwarten, wird die Tür geöffnet.
Karl