„Dann segeln wir also an der Küste entlang?“
„Ja, an der Küste entlang nach Süden, sobald ihr die Perle Indiens erreicht habt. Ihr könnt sie nicht verfehlen. Ihr werdet in die Nähe von Negombo segeln und euch dort als Fischer ausgeben. Irgendwo in den wilden Mangroven versteckt ihr das Boot und geht von dort aus schnurgerade nach Osten. Wenn ihr den Dschungel hinter euch und die Berge überwunden habt, werdet ihr den Kandy-See erblicken, aber er wird euren Augen wieder entschwinden, und dann müßt ihr die Karte benutzen. Wischnu wird über euch wachen. Ich habe hier noch eine kleine Hilfe für euch. Ihr werdet staunen. Es ist wie Zauberei, wie magische Kräfte.“
Chandra und Malindi sahen gespannt zu, wie der alte Nasir ein dünnes Brettchen hervorholte.
Auf diesem Brettchen befanden sich allerlei Symbole und feine oder gröbere Striche. In der Mitte des Brettchens war ein dünner Nagel angebracht, so dünn und spitz, daß man sich daran verletzen konnte.
Der Alte holte nun mit einem geheimnisvollen Lächeln ein lackiertes Kistchen hervor und entnahm ihm eine zerbrechlich wirkende Nadel, die er auch den anderen zeigte.
„Was ist das?“ fragte Chandra. „Ein Glücksbringer?“
„Eine Zaubernadel, ausgestattet mit magischen Kräften. Die Götter wirken mit ihrem göttlichem Atem auf die Kräfte ein.“
Alle scharten sich jetzt um den Subedar, der die Nadel vorsichtig in die Hand nahm und ebenso vorsichtig auf den Nagel im Brettchen setzte.
Die Nadel begann zu zittern, obwohl niemand sie berührte. Ohne jeden erkennbaren Anlaß begann sie sich zu drehen, bis sie zitternd auf einen Punkt zeigte und auf ihm stehenblieb. Die Spitze dieser wundersamen Nadel war bläulich verfärbt.
Der Alte sagte noch nichts, er lächelte nur sein zahnloses Lächeln und berührte die Nadel wieder. Ganz vorsichtig drehte er sie herum, bis die bläuliche Spitze in entgegengesetzte Richtung wies.
Die anderen sprangen entsetzt zurück, als die Nadel wieder zu zittern begann, sich drehte und schließlich auf demselben Punkt stehenblieb, den sie auch vorher schon eingenommen hatte.
„Ihr könnt sie drehen, wie ihr wollt“, erklärte der Alte. „Die Spitze der Nadel wird immer wieder zu diesem geheimnisvollen Punkt zurückkehren. Dieser Punkt liegt im Norden, wo das blaue Symbol steht. Das ist der Mittelpunkt des Universums, von dem alle geheimnisvollen Kräfte auf dieser Welt ausgehen.“
„Aber wie ist das möglich?“ fragte Malindi verstört. „Sie bewegt sich ja von ganz allein.“
„Die Naturkräfte bewegen sie – Götteratem, Strahlung und die Kraft der Allmacht. Gib mir mal dein Messer, Malindi.“
Die Männer waren anfangs von dieser unsichtbaren Kraft entsetzt, aber jetzt faszinierte sie diese Nadel, die ständig unruhig zitterte, aber trotzdem auf das blaue Symbol zeigte und nicht davon abwich.
Der Subedar nahm das scharfgeschliffene Messer und deutete mit der Spitze auf die Nadel, indem er es dicht davorhielt.
Für die Inder geschah schlicht ein Wunder.
Die Nadelspitze folgte dem Messer, egal in welche Richtung es der Alte bewegte. Sie lief der Messerspitze nach wie ein Hündchen, drehte sich um sich selbst, oder begann schnell zu kreisen, wenn der Subedar das Messer entsprechend schneller bewegte.
„Dann – dann steckt ein Geist in dieser Nadel“, stieß Malindi atemlos hervor. „Ist es so?“
„Eine geistige Kraft, die mir immer anzeigt, wo ihr gerade seid, oder was ihr tut. Ich werde euch diese Zaubernadel mitgeben, denn mit ihrer Hilfe könnt ihr die Himmelsrichtungen feststellen. Ich habe noch eine zweite Nadel. Sie wird mit der anderen in ständiger, unsichtbarer Verbindung stehen. Jetzt werde ich euch erklären, wie ihr mit Hilfe dieser Nadel die Himmelsrichtung feststellen könnt.“
Malindi erschrak heftig, aber er ließ sich nichts anmerken.
Mit Hilfe dieser Zaubernadel konnte der große Subedar also feststellen, wo sie gerade waren oder was sie taten? Unheimlich war das, kaum zu begreifen! Oder war es nur ein Trick des Alten?
Malindi forschte unauffällig in seinem Gesicht. Aber Nasir ud-daula ließ keine Regung erkennen. Seine Gesichtszüge waren so ruhig und ausgeglichen wie immer.
Bei dem Gedanken, daß Nasir sie beobachten konnte, selbst wenn sie noch soweit entfernt waren, fühlte sich Malindi gar nicht wohl. Ob der große Subedar auch bei Nacht sehen konnte? fragte er sich beklommen, oder galt das nur für den hellen Tag?
Chandra Muzaffar schien sich nicht daran zu stören, daß der Subedar sie ständig beobachten konnte. Aber das war kein Wunder, er hatte ja nicht die Absicht, den Alten zu betrügen.
Malindi hatte schließlich die rettende Idee. Wenn sie diese geheimnisvolle Nadel unterwegs durch einen unglückseligen Umstand verloren, dann war der Bann gebrochen, und die Verbindung konnte nicht mehr funktionieren. So einfach war das.
Er beglückwünschte sich zu diesem Gedanken und fühlte sich im Augenblick mindestens genauso schlau wie der Alte. Natürlich würde er auch Chandra nichts davon sagen.
Er wagte jedoch einen kleinen Vorstoß.
„Was passiert, großer Subedar, wenn diese Nadel verlorengeht? Finden wir uns dann nicht mehr zurecht?“
„Warum sollte sie verlorengehen?“
„Wir könnten in ein Unwetter geraten“, meinte Malindi. „Oder böse Geister könnten sie uns rauben.“
„Diese Nadel scheint dich sehr zu interessieren“, sagte der Alte mit einem nachsichtigen Lächeln. „Sie soll aber nicht verlorengehen, der große Geist könnte das übelnehmen und verärgert sein. Wenn dieser Fall jedoch eintritt, dann orientiert ihr euch am Verlauf der Küste bis nach Negombo.“
Mehr sagte der Alte darüber nicht.
Malindi nahm sich vor, irgend etwas zu inszenieren, damit diese Wundernadel möglichst unauffällig verschwand. Der große Geist mußte nur überlistet werden.
Die Erklärung des Alten über die Funktionsweise der Nadel dauerte länger als eine ganze Stunde. Aber jetzt wußten sie wenigstens, wie die Nadel funktionierte. Man konnte mit ihrer Hilfe alle Himmelsrichtungen unterscheiden, und zwar aus dem Grund, weil sie beständig nach Norden zeigte, ohne jemals von diesem Punkt abzuweichen.
Anschließend wurde über die heilige Reliquie gesprochen, und daran erhitzten sich stundenlang die Gemüter.
2.
Nach acht Tagen fanden sich Malindi und Chandra wieder in der baufälligen Hütte ein.
Malindis Haar war zwar noch nicht so lang wie früher, aber es waren schon schwarze Stoppeln, die jetzt seinen Kopf bedeckten. Von der tätowierten Karte war auf den ersten Blick nichts mehr zu sehen.
Über dem Fluß hingen wieder riesige Schwärme von Stechmücken, und die Luft war heiß und stickig.
„Das sieht sehr gut aus“, sagte der große Subedar und betrachtete aufmerksam Malindis Kopf. „Die Haare sind so stark nachgewachsen, daß man nichts mehr erkennen kann. Damit steht eurer Abreise nichts mehr im Weg. Wir werden jetzt die allerletzten Kleinigkeiten besprechen, und dann nehmt ihr das Boot. Bis ihr drüben seid, vergehen nochmals etliche Tage. Niemand wird dann noch etwas auf deinem Kopf bemerken. Sobald ihr nicht mehr weiter über euren Weg im klaren seid, wird Chandra dir den Kopf rasieren, und danach trägst du einen Turban. Ich hoffe aber, daß es nicht nötig sein wird.“
Zuerst brachte er das Kästchen mit der Wundernadel