Das verlassene Haus. Louise Penny. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Louise Penny
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Gamache
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311701262
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Weg zum Erfolg vorgezeichnet.

      Jetzt stand Peter da und starrte das Werk an.

      Plötzlich spürte er, wie etwas nach ihm griff. Von hinten. Es drang in ihn ein und verbiss sich dort. Peter keuchte vor Schmerz, ein schneidender, scharfer Schmerz. Tränen stiegen ihm die Augen, als er von dem Gespenst überwältigt wurde, das ihn schon sein ganzes Leben lang verfolgte. Vor dem er sich als Kind versteckt hatte, vor dem er weggelaufen, das er vergraben und verleugnet hatte. Es war ihm hinterhergejagt, und schließlich hatte es ihn gefunden. Hier, in dem Atelier seiner geliebten Frau. Hier, vor ihrem Werk, hatte ihn das schreckliche Monster gefunden.

      Und verschlang ihn.

      5

      Was wollte Ruth denn?, fragte Olivier, als er die Gläser mit Single Malt Scotch vor Myrna und Gabri stellte. Odile und Gilles waren nach Hause gegangen, aber alle anderen waren noch im Bistro. Clara winkte Peter zu, der aus seiner Jacke schlüpfte und sie an einen Haken neben der Tür hängte. Sie hatte ihn gleich nach dem Ende der Séance angerufen und ihn zur Manöverkritik eingeladen.

      »Na ja, zuerst dachten wir, sie würde ›Pest‹ rufen, ›ihr seid die Pest‹«, sagte Myrna, »aber dann wurde uns klar, dass sie ›Nest‹ und ›ich hab ein Nest‹ rief.«

      »Nest? Wirklich?«, fragte Olivier, der sich auf der Lehne von Gabris Sessel niedergelassen hatte und an einem Cognac nippte. »Nest? Glaubt ihr, dass sie das eigentlich immer meint?«

      »Und wir haben uns immer verhört?«, fragte Myrna. »Du stinkst wie ein Nest? Hat sie das neulich zu mir gesagt?«

      »Dem wünsche ich ein Nest an den Hals?«, fragte Clara. »Gut möglich. Sie ist ja ein schräger Vogel.«

      Monsieur Béliveau lachte und sah zu Madeleine, die blass und still neben ihm saß.

      Der schöne Frühlingstag hatte in einem kalten und feuchten Abend geendet. Jetzt ging es auf Mitternacht zu, und sie waren die Letzten im Bistro.

      »Was wollte sie denn?«, fragte Peter.

      »Hilfe wegen ein paar Enteneiern. Erinnerst du dich an das Nest, das wir heute Nachmittag am Teich gefunden haben?«, fragte Clara an Mad gerichtet. »Geht es dir gut?«

      »Ja, mir geht’s gut.« Madeleine lächelte. »Ich bin nur leicht nervös.«

      »Das tut mir leid«, sagte Jeanne. Sie saß auf einem Holzstuhl, ein bisschen abseits von den anderen, und hatte sich in eine farblose Erscheinung zurückverwandelt; das starke, ruhige Medium schien sich in Luft aufgelöst zu haben, kaum war das Licht angegangen.

      »Nein, nein, das hat nichts mit der Séance zu tun«, versicherte ihr Madeleine. »Wir haben nach dem Abendessen Kaffee getrunken, und es war wahrscheinlich kein koffeinfreier. Davon werde ich immer nervös.«

      »Aber das ist doch nicht möglich«, sagte Monsieur Béliveau. »Ich bin sicher, er war koffeinfrei.« Allerdings war er auch ein wenig nervös.

      »Was ist denn nun mit dem Nest?«, fragte Olivier und strich über die Bügelfalte seiner makellosen Cordhose.

      »Offenbar ist Ruth zum Teich gegangen, nachdem wir weg waren, und hat die Eier angefasst«, erklärte Clara.

      »O nein«, sagte Mad.

      »Dann kamen die Vögel zurück und wollten sich nicht mehr auf das Nest setzen«, sagte Clara. »Genau wie Sie vorausgesagt haben. Deshalb hat Ruth die Eier mit nach Hause genommen.«

      »Um sie zu essen?«, fragte Myrna.

      »Um sie auszubrüten«, sagte Gabri, der mit Clara zusammen Ruth zu ihrem Häuschen begleitet und ihr seine Hilfe angeboten hatte.

      »Sie hat sich aber doch hoffentlich nicht auf sie draufgesetzt?«, fragte Myrna, die nicht genau wusste, ob sie die Vorstellung amüsant oder abstoßend finden sollte.

      »Nein, es war sogar richtig rührend. Als wir eintrafen, lagen die Eier auf einer weichen Flanelldecke, und sie hatte sie samt Decke auf kleinster Flamme in den Ofen gesteckt.«

      »Gute Idee«, sagte Peter. Wie die anderen hätte er eigentlich auch gedacht, dass Ruth sich die Eier einverleiben und nicht zu retten versuchen würde.

      »Ich glaube nicht, dass sie diesen Ofen in den letzten Jahren auch nur einmal angestellt hat. Sie sagt immer, dass er zu viel Gas verbraucht«, sagte Myrna.

      »Jetzt hat sie ihn jedenfalls angestellt«, sagte Clara. »Um die Eier auszubrüten. Die armen Eltern.« Sie nahm ihren Scotch und sah auf den dunklen Dorfanger, stellte sich die Enteneltern vor, wie sie am Teich hockten, dort, wo ihre kleine Familie gewesen war und die Küken in ihren Schalen gesessen und darauf vertraut hatten, dass Mutter und Vater sie warm hielten und beschützten. Entenpaare blieben ein Leben lang zusammen, wie Clara wusste. Deshalb war die Entenjagd ja auch so grausam. Im Herbst sah man immer wieder die eine oder andere einsame, quakende Ente, die nach ihrem Gefährten rief, wartete. Und den Rest ihres Lebens warten würde.

      Warteten die Enteneltern auch? Warteten sie darauf, dass ihre Kleinen zurückkehrten? Glaubten Enten an Wunder?

      »Sie muss euch allen wirklich eine Heidenangst eingejagt haben«, Olivier lachte, als er sich Ruth am Fenster vorstellte.

      »Glücklicherweise hat unsere gute Clara sofort auf die spirituelle Krise reagiert und die Gefahr mit einem uralten Gebet gebannt«, erklärte Gabri.

      »Will noch jemand was zu trinken?«, fragte Clara.

      »Komm, Herr Jesus«, fing Gabri an, und die anderen fielen ein, »sei unser Gast und segne, was Du uns bescheret hast.«

      Peter prustete los und spürte, wie ihm der Scotch übers Kinn lief.

      »Amen.« Peter blickte ihr in die blitzenden blauen Augen.

      »Amen«, riefen alle im Chor, auch Clara, die selbst lachen musste.

      »Das hast du gesagt?«, fragte Peter.

      »Na ja, ich dachte, dass sich dann mein Abendessen vielleicht wieder vor mir materialisieren würde.«

      Mittlerweile lachten alle, selbst der gesetzte, brave Monsieur Béliveau grölte und musste sich die Tränen aus den Augen wischen.

      »Ruths Erscheinen hat der Séance auf jeden Fall ein Ende bereitet«, sagte Clara, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte.

      »Ich glaube, wir wären sowieso nicht besonders erfolgreich gewesen«, sagte Jeanne.

      »Inwiefern?«, fragte Peter, neugierig auf ihre Ausflüchte.

      »Ich fürchte, dieser Ort ist zu heiter«, sagte Jeanne an Olivier gerichtet. »Den Eindruck hatte ich von Anfang an.«

      »Also wirklich!«, sagte Olivier. »Das können wir unmöglich auf uns sitzen lassen.«

      »Warum haben Sie die Séance dann überhaupt abgehalten?« Peter gab nicht auf, er war sicher, sie ertappt zu haben.

      »Na ja, es war ja eigentlich nicht meine Idee. Ich hatte vor, hier einen ruhigen Abend zu verbringen, die Linguine Primavera zu probieren und sämtliche alten Hefte von Country Life zu lesen. Ganz ohne böse Geister um mich.«

      Jeanne sah Peter in die Augen, ihr Lächeln verschwand.

      »Außer einem«, sagte Monsieur Béliveau. Peter riss seinen Blick von Jeanne los und sah zu Béliveau, halb erwartete er, dass dieser mit krummem Zeigefinger auf ihn deuten würde. Aber stattdessen wandte Monsieur Béliveau ihm sein habichtähnliches Profil zu und starrte zum Fenster hinaus.

      »Was meinen Sie damit?«, fragte Jeanne, die seinem Blick gefolgt war, aber durch die Spitzengardinen und die alten Glasscheiben nur die anheimelnden Lichter aus den Häusern im Dorf sehen konnte.

      »Da oben.« Monsieur Béliveau deutete mit dem Kinn in die Richtung. »Hinter dem Dorf. Sie können es in der Dunkelheit nicht erkennen, wenn Sie nicht wissen, wonach Sie Ausschau halten müssen.«

      Clara sah nicht hinaus. Sie wusste,