Ich mag dich.
Hazel wagte es nicht, Madeleine in die Augen zu sehen. Aber als sie von dem winzigen Notizzettel aufblickte, stellte sie fest, dass ihr Wohnzimmer, das an diesem Morgen noch so düster gewirkt hatte, auf einmal einen warmen, freundlichen Eindruck machte und die ausgeblichenen Farben zu leuchten begonnen hatten. Als ihr Blick wieder zu Madeleine zurückkehrte, war das Wunder geschehen. Aus einem waren zwei geworden.
Madeleine fuhr nach Montréal, um die Behandlung abzuschließen, aber sobald wie möglich kam sie in das Cottage auf dem Land zurück, umgeben von sanften Hügeln, Wäldern und Wiesen voller Frühlingsblumen. Madeleine hatte ein Zuhause gefunden, genau wie Hazel.
Jetzt nahm Hazel ihre Stopfsachen von dem alten Sofa. Sie machte sich Sorgen. Sorgen darüber, was im Bistro vor sich ging.
Sie hatten das Runenorakel gemacht, das auf den altnordischen Symbolen der Weissagung beruhte. Nach den Runensteinen war Clara ein Auerochse, Myrna eine Fackel und Gabri ein Karfunkel, auch wenn Clara ihm erklärte, die Rune würde nicht Karfunkel, sondern Furunkel bedeuten.
»Stimmt! Ich habe eines am Hintern«, sagte Gabri beeindruckt. »Und deine Rune stimmt auch, du Kuh.«
Monsieur Béliveau griff in den kleinen Weidenkorb und zog einen Stein mit einem Symbol in Form eines Diamanten heraus.
»Hochzeit«, mutmaßte Monsieur Béliveau. Madeleine lächelte, sagte aber nichts.
»Nein«, sagte Jeanne, nahm den Stein und betrachtete ihn. »Das ist der Gott Ing.«
»Lassen Sie mich mal.« Gilles Sandon griff mit seiner großen, schwieligen Hand in das Körbchen und zog sie wieder heraus. Als er die Faust öffnete, erblickten sie einen Stein mit dem Buchstaben R. Er sah für Clara ein bisschen wie die Holzeier aus, die sie für die Kinder versteckt hatten. Die waren auch mit Symbolen bemalt. Aber Eier waren Symbole des Lebens, während Steine Symbole des Todes waren.
»Was bedeutet das?«, fragte Gilles.
»Das steht für Rad, das Rad des Lebens. Eine Reise«, sagte Jeanne und sah zu Gilles. »Oft von Mühsal und schwerer Arbeit begleitet.«
»Verraten Sie mir was Neues!«
Odile lachte, genau wie Clara. Gilles arbeitete schwer, und sein Körper zeugte von den Jahren als Holzfäller. Stark und kräftig, oft genug übersät mit blauen Flecken und kleineren Blessuren.
»Allerdings«, sagte Jeanne und legte ihre Hand auf den Stein, der noch immer auf Gilles’ schwieliger Handfläche lag, »liegt er verkehrt herum. Das R steht auf dem Kopf.«
Auf einmal waren alle ganz still. Gabri hatte in den Erläuterungen zu den Runensymbolen entdeckt, dass sein Stein tatsächlich »Karfunkel« und nicht »Furunkel« bedeutete, und er hatte mit Clara geschimpft und ihr angedroht, sie von der weiteren Versorgung mit Pasteten und Rotwein abzuschneiden. Jetzt wandten sie sich wieder den anderen zu, die Jeanne gespannt zuhörten.
»Und was bedeutet das?«, fragte Odile.
»Es bedeutet, dass der Weg nicht leicht ist. Es soll Sie ermahnen, vorsichtig zu sein.«
»Und was bedeutet seiner?« Gilles deutete auf Monsieur Béliveau.
»Gott Ing? Er verweist auf Fruchtbarkeit und Männlichkeit.« Jeanne lächelte den ruhigen, sanften Gemischtwarenhändler an. »Daneben gemahnt er eindringlich daran, dass wir alles Natürliche achten sollen.«
Gilles lachte, ein höhnisches, gemeines, kleines Lachen.
»Und jetzt Madeleine«, sagte Myrna, um die Spannung zu lösen.
»Gut.« Mad griff in das Körbchen und zog einen Stein heraus. »Bestimmt sagt meiner, dass ich selbstsüchtig und herzlos bin. P.« Lächelnd besah sie sich das Symbol. »P wie pinkeln? Erstaunlich, ich muss nämlich aufs Klo.«
»Das Symbol P steht für Freude«, sagte Jeanne. »Und noch etwas.«
Madeleine zögerte. Während Clara sie ansah, schien die unglaubliche Energie, die diese Frau umgab, schwächer zu werden, zu verschwinden. Es machte den Eindruck, als würde sie einen kurzen Moment lang in sich zusammenfallen.
»Es liegt auch verkehrt herum«, sagte Madeleine.
Hazel stopfte die löchrigen Socken, aber im Geist war sie mit etwas anderem beschäftigt. Sie blickte auf die Uhr. Halb elf. Noch früh, sagte sie sich.
Sie überlegte, was in dem Bistro drüben in Three Pines wohl vor sich ging. Madeleine hatte gefragt, ob sie mitkommen wolle, aber Hazel hatte abgelehnt.
»Sag bloß, du fürchtest dich«, hatte Madeleine sie aufgezogen.
»Natürlich nicht. Aber ich halte solche Sachen für Blödsinn, reine Zeitverschwendung.«
»Du hast also keine Angst vor Gespenstern? Du würdest in ein Haus neben einem Friedhof ziehen?«
Hazel dachte kurz nach. »Wahrscheinlich nicht, aber nur weil es Probleme mit dem Wiederverkauf gäbe.«
»Du und dein Sinn fürs Praktische.« Madeleine lachte.
»Glaubst du, dass diese Frau tatsächlich Kontakt zu den Toten aufnehmen kann?«
»Ich weiß es nicht«, gab Mad zu. »Darüber habe ich offen gestanden überhaupt nicht nachgedacht. Ich denke, es wird einfach ein lustiger Abend.«
»Viele Leute glauben an Gespenster und Geisterhäuser«, sagte Hazel. »Ich habe erst gestern von einem solchen Haus gelesen. Es steht in Philadelphia. Es wird von dem Geist eines Mönchs heimgesucht, und Besucher des Hauses berichten, dass sie menschliche Schatten auf der Treppe gesehen haben, und da war noch etwas, was war es noch mal? Es hat mir einen Schauer über den Rücken gejagt. Ach ja. Eine kalte Stelle, direkt neben einem großen Ohrensessel. Offenbar stirbt jeder, der darin sitzt, aber vorher sieht er erst noch das Gespenst einer alten Frau.«
»Hast du nicht gerade gesagt, du glaubst nicht an Gespenster?«
»Tu ich auch nicht, aber viele andere Leute tun es.«
»In vielen Kulturen spielen Geister und höhere Wesen eine Rolle«, erklärte Madeleine.
»Aber von denen sprechen wir ja nicht, oder? Ich glaube, es gibt da Unterschiede. Ein Gespenst führt nichts Gutes im Schilde. Es ist irgendwie rachsüchtig, wütend. Ich weiß nicht, ob man damit herumspielen sollte. Und das Haus, in dem sich das Bistro befindet, steht dort schon seit Hunderten von Jahren. Weiß der Himmel, wie viele Leute dort gestorben sind. Nein, ich bleibe lieber hier, schau ein bisschen fern und bringe der armen Madame Bellows nebenan etwas zum Abendessen. Und geh Gespenstern aus dem Weg.«
Jetzt saß Hazel im schwachen Lichtschein einer einzelnen Lampe im Wohnzimmer. Die Erinnerung an das Gespräch ließ sie frösteln, so als hätte sich ein Gespenst, das Kälte um sich verbreitete, neben ihr niedergelassen. Sie stand auf und knipste sämtliche Lichter an. Aber das Zimmer blieb düster. Ohne Madeleine schien es jeder Gemütlichkeit zu entbehren.
Wenn alle Lichter angeknipst waren, konnte sie nur leider nicht mehr zum Fenster hinaussehen. Dann sah sie nur noch ihr eigenes Spiegelbild. Zumindest hoffte sie, dass es ihr Spiegelbild war. Da saß eine Frau mittleren Alters in einem spießigen Tweedrock und einem olivfarbenen Twinset auf einem Sofa. Um ihren Hals lag eine schmale Perlenkette. Es hätte ihre Mutter sein können. Vielleicht war sie es ja auch.
Peter Morrow stand auf der Schwelle zu Claras Atelier und spähte ins Dunkle. Er hatte das Geschirr gespült, im Wohnzimmer vor dem Kamin gelesen und dann gelangweilt beschlossen, in sein Atelier zu gehen und eine Weile an seinem neuesten Bild zu arbeiten. Er hatte in der festen Absicht, direkt in sein Atelier auf der Rückseite des kleinen Hauses zu gehen, die Küche durchquert.
Wie kam es dann, dass er jetzt in der offenen Tür zu Claras Atelier stand?
Es war dunkel und absolut still dort drin. Er spürte sein Herz in der Brust schlagen. Seine Hände waren kalt, und er merkte, dass er die Luft angehalten hatte.
Es