Ein schweres, tiefes Aufatmen zweier Menschen, die kein Wort miteinander sprachen, sich kaum nach einer Weile mit einem stummen Seitenblick streiften, im gegenseitigen Hass ihrer Schicksalsgemeinschaft . . . Es war für ihn, bei aller Erlösung, ein grimmiges, inneres Lachen, ein verächtlicher heisser Zorn, sich mit der Frau im Blaufuchs, in der Rettung vor deutschen Häschern eins zu wissen — er — in dessen Seele nichts als Deutschland, die blinde, — ach ewig . . . blinde — Mutter lebte — und dieses Geschöpf da . . .
Er glaubte, sie würde noch jetzt plötzlich ohnmächtig, umfallen. Der letzte eiskalte Schrecken kam nun bei ihr nach. Sie schauderte immer wieder jäh in sich zusammen. Sie zitterte leise am ganzen Körper. Sie trat mit unsicheren Schritten an den nahen Kantinentisch, wo Champagner in Gläsern feilstand, warf ein Bündel Papiergeld auf die nasse Holzplatte und stürzte einen Kelch herunter. Das belebte sie etwas. Sie schaute beinahe ungläubig um sich und zog fröstelnd die Schultern hoch. Er dachte sich: Das war dir wenigstens eine Lehre! Dir wird jetzt der Boden Deutschlands unter deinen Sandalen zu heiss! Auch ohne deinen Schwur . . . beim Grab der Mutter . . .
„Platz frei . . .! Platz frei!“ Sie traten zur Seite, Pfeifengetriller. Geschrei. Alle Photographen an ihren Geschüben. Der kleine Feldherr stand oben auf seinem Turmgerüst mit seinem Stab. Gebrüll durch die Sprachrohre. Trompetenstösse vom Blachfeld als Antwort. Mit Flatternden Wimpeln, in rasselndem Blech, kunstvoll in Staffeln aufgefächert, dass es nach viel mehr Rittern aussah, als es waren, galoppierte der reisige Heerbann heran. „Kaufen Sie Vereinigte Spinnereien! Die kriegen bald Junge“, rief mit eingelegter Lanze — atemlos — im Vorbeireiten ein Kreuzfahrer einem anderen Nachzügler neben ihm zu, und dann, sich im Sattel nach rückwärts wendend, wütend: „Was karren Sie denn mir egal hinter den Hufen her? Wollen Sie mit Ihrer Benzindroschke ooch mit aufs Bild?“
Die grüne Limousine, die hinter dem Reiter rollte, stoppte, nahe den beiden. Er und sie schritten auf das Auto zu, langsam, mit gleichgültigen Gesichtern, um nicht aufzufalen. Aber alles schaute nach dem Marktplatz. Dort tobte die Reiterschlacht. Der berittene schwarzbärtige Bösewicht von vorhin war mit den Seinen, von der Pappstadt des Hintergrunds her, dem Kreuzheer in die Flanke gefallen. Das schwarze Schafott ragte aus einem Wirrwarr von Marienbannern, Pferdeköpfen, Helmen, Schilden, Schwertern, in deren Geklirr ununterbrochen das Megaphon hoch von oben: „Tempo! . . . Tempol . . . Zum Donnerwetter: Tempooooo!“ heulte.
„Steigen Sie ein!“ sagte sie hastig. Sie riss selbft den Wagenschlag auf. Er schaute hinein: Da drinnen lag, alles, was er benötigte: Anzug — Mantel — Hut — Stiefel. Aber er blieb noch draussen. Er trat zu dem Chauffeur:
„Bitte — geben Sie mir Ihre Pistole!“ versetzte er höflich.
Der Mann am Steuer sah ihn finster an und antwortete nach einer Weile in fremdartigem Deutsch:
„Habe ich keine . . .“
„Natürlich haben Sie eine Mehrladepistole bei sich!“ sagte der andere ruhig. „Jeder Chauffeur, der heutzutage einen Wagen allein über Land fährt, hat eine.“
„Wenn ich habe — ich brauche selber . . .“
„Und wozu haben Sie sie nötig?“ drängte die neben ihm den Flüchtling im Kittel. Er drehte sich ihr, zu.
„Um nicht unterwegs im Wald von Ihrem Chauffeur, oder was der Herr in Wirklichkeit ist, totgeschossen zu werden. Was machen Sie für ein erstauntes Gesicht? Das ist doch für jemanden wie Sie das Nächstliegende, um einen Mitwisser los zu werden!“
„Was denken Sie von mir?“
„Das Niederträchtigste . . . Und von diesem Menschen ebenso! . . . Ohne die Pistole setze ich keinen Fuss in den Wagen . . .“
Sie überlegte. Dann redete sie wieder hastig in fremder Zunge mit dem Chauffeur. Er widersprach. Sie schienen sich jetzt zu einigen. Er griff in die Tasche seines dicken Fahrpelzes, holte einen Browning heraus und reichte ihn wortlos dem andern. Der überzeugte sich mit zwei Griffen, dass das Magazin gefüllt war, entsicherte die Waffe durch einen Ruck am Rohr, bis auf den Stellhebel, und steckte sie in die Tasche.
„Nun nach München — was das Zeug hält!“ befahl er. Der Chauffeur knurrte.
„Ich weiss nur nächste Wegstrecke! Was dann . . .?“
„Ich kenne Deutschland wie meine Tasche! Aus dem Flugzeug von oben und aus dem Auto unten! Ich zeige schon die Richtung! . . . Und Sie . . .“ Er wendete sich noch einmal kalt und drohend an die Nonne im Pelz. „Sie befreien morgen Deutschland für immer von Ihrer Gegenwart!“
„Beim Grab meiner Mutter! Machen Sie schnell . . . da kommt alles zurück . . .“
Die geworfene Christenheit zu Pferde flutete Flüchtend heran. Es war ein regelloses Gewimmel, schon ausserhalb der photographischen Platten. Aber die aufgeregten Gäule liessen sich nicht so schnell halten. Das Automobil rollte dumpf tutend zwischen galoppierenden, schimpfenden, an den Zügeln reissenden Kreuzfahrern. Ein Löwenritter hatte schon den Hals seines Hengstes umschlungen, löste sich, plumpste rasselnd zu Boden. Der ledige Gaul jagte noch ein paar Dutzend Sprünge, vor Schrecken prustend, mit zurückgelegten Ohren, neben der Limousine her. Dann blieb er zurück. Man hörte in gleichmässiger, fliegender Fahrt nur noch den eintönigen, beruhigend summenden Viertakt des Motors.
Er hatte die Vorhänge vor den Scheiben zugezogen und sich in den dunkelblauen Sonntagsanzug des Chauffeurs gekleidet. Die Sachen passten nicht ganz, aber sie waren zum Glück eher zu weit als zu eng. Denn der Unbekannte draussen am Steuer war etwas grösser als er.
Nun schaute er, fertig umgezogen, durchs Fenster. Draussen flog herbstlicher Wald vorbei. Kahle, hohe Stämme. Dann ein tiefes Tannendicticht bis zur Strasse. Es reiste jetzt noch eine furchtbare Gefahr der Entdeckung im Wagen mit: Seine Gefängnissachen. Er hatte aus Kittel, Pantoffeln und Unterzeug ein kleines Bündel geschnürt. Er beorderte durch das Sprachrohr: Stop! Er stieg aus, überzeugte sich, dass niemand auf der Strasse war, und schob den Packen in der Tannenschonung unter Haufen von dürrem Laub und Reisig. Er setzte sich jetzt vorn neben den Chauffeur. Seine Hand wies den Weg nach Süden. Nach München . . . nach München . . . Jede Minute war vielleicht ein Menschenleben . . .
Die Limousine lief. Lief bergauf, bergab. Lief Stund’ um Stunde. Lief durch Deutschland, das mit seinen Feldern, seinen Dörfern, seinen Wäldern so friedlich unter herbstblauem Himmel im Sonnenschein und Wolkenschatten dalag, als seien all die letzten Jahre ein böser Traum. Nur die Wipfel der Bäume, die sich bebend bogen, — die kleinen Schaumwellen auf den Gewässern — der Tanz von welkem Laub in der Luft, liessen merken, dass nach wie vor der Sturm durch Deutschland stöhnte — von der Waterkant bis zum bayerischen Hochland.
In einem Dorf assen und tranken sie eilig etwas. Sie liessen es sich aus dem Wirtshaus an das Auto bringen. Weiter! Weiter! Nach München! In einem Städtchen fassten sie Benzin. Der Tank aufgefüllt. Zwei volle Kanister neben dem Führersitz. Weiter! Weiter! Nach München! Ein scharfer Knall mitten auf der Landstrasse. Ein Pneu segnete das Zeitliche. Einen Reservereifen aufgezogen. Gott sei Dank: Auf dem Dach der Limousine lagen drei. Weiter! Weiter! Nach München! . . . Nach München! . . . Nach München! . . .
Aber plötzlich stoppte der Fremde am Steuer und sagte rauh und knapp: „Müssen wir halten! . . . Ich kann nicht mehr!“
Es war kein Wunder. Der Ausländer hatte gute Nerven. Aber er war jetzt viele Stunden fast ohne Unterbrechung gefahren. Die Mittagszeit war schon vorüber.
Der andere drängte ihn vom Führersitz und nahm da selber Platz.
„Schlafen Sie jetzt ein paar Stunden!“ sagte er. „Inzwischen kutschiere ich!“
„Können