Drachentöter. Rudolf Stratz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudolf Stratz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711507223
Скачать книгу
. . Natürlich . . . Wie hatte sie vorhin selber im Wagen gesagt: ‚Ihr Bruder wird mich rächen! Denn er steht mir nahe! Er geht jetzt nach München’ . . .“

      Nach München . . . die Zeit rinnt . . . Der Verrat wühlt . . . Nach München . . . nach München . . . Wo bleibt das Auto?. . . Nein, es kann ja noch gar nicht zurück sein . . .

      Er krampfte die Fäuste in den Taschen des Mantels vor Ungeduld. Sein Gesicht war kalt beherrscht wie immer. Viele Pfeifen trillerten. Neben ihm warf der schwarzhaarige Jüngling die Arme in die Luft und schrie wie besessen mit grässlicher Stimme: „Entsetzen!“ Andere Rufe hallten „Entsetzen!“ Dumpf dröhnten die Paukenschläge der Kapelle, gequält kreischten die Hörner, unheilverkündend rasselten die Trommeln und peitschten die Nerven auf und zauberten Schrecken rings auf die rot, weiss und violett gefärbten Züge.

      „Freiheit!“ donnerte hoch oben von dem Turmgerüst durch das Sprachrohr der lange Italiener in fremdartigem Deutsch das mühsam eingeprägte Wort. „Freiheit!“ brauste es unten durch die Masse des mittelalterlichen Volkes. „Freiheit!“ schrien die Russen. „Freiheit!“ schrien die deutschen Männer, die deutschen Frauen, die deutschen Mädchen und strudelten mit verzückten Gesichtern gegen den Lanzenwald der Büttel.

      Der Flüchtling stand abseits von dem Gedränge, ausserhalb der Aufnahme. Ein Operateur hatte ihn gerade noch am Mantelzipfel gepackt und zurückgerissen und geschimpft: „Das sollte einem alten Filmhasen wie Ihnen doch nicht passieren, dass Sie einem die Platte verderben!“ Er trug die blaue Brille vor den Augen. Die Welt dunkelte vor ihm wie ein lärmender, sturmbewegter Meeresgrund in einem düsteren und doch erhellten Blauschwarz, so als sähe man wie eine Kafe durch die Nacht. „Freiheit! . . . Freiheit!“ . . . Er dachte sich: Freiheit — missbraucht man wieder einmal in Deutschland deinen heiligen Namen . . . . „Freiheit!“ schrie es immer lauter auf das Winken der Regisseure in das wilde Gekurbel der Photographen. Da vorn wurde offenbar immer noch weiter gespielt. Freiheit . . . Was zetert ihr bezahlten Leute hier vor den geschäftstüchtigen Ausländern von Freiheit? . . . In München . . . da ist deutsche Freiheit in Gefahr. Freiheit der Freunde . . . Freiheit der Besten . . . . . .

      Er riss die Brille ab. Sein Blick suchte, von der kleinen Erhöhung, wo er stand, über hundert Köpfe weg die Landstrasse. Noch alles leer . . .

      Aber da vorn, nahe vor ihm — da war das grosse Bild: Der Höhepunkt des Tages: Auf schwarzem Ross hielt da irgendein schwarzbärtiger Bösewicht mit seinem Gefolge, und vor ihm auf dem Pflaster kniete, um das Leben des armen Sünders bettelnd und barmend, die schöne Nonne. Dem Kloster entwichen — vor allen Menschen sich ächtend — das Jenseits sich verscherzend — aus Liebe! Sie streckte im Knien die beiden Arme weit rechts und links, als hinge sie, eine Märtyrerin der Liebe, am Kreuz. Ihr Mund war weit offen. Riesig dunkelten die verzweifelt aufgerissenen Augen. Sie spielte — spielte in atemloser Leidenschaft — keuchend — hingerissen von der Szene — sie umfing den Steigbügel — sie küsste flehend den Rocksaum — sie krampfte wildlachend die Finger um den Puffärmel des Tyrannen — heisere; abgebrochene slawische Laute stöhnten heiss aus ihrer Kehle in die tiefe Stille, in der nur noch die Kurbeln der Apparate eilig summten. Vorgebeugt — mit angehaltenem Atem und gespannten Gesichtern — sie nicht aus den Augen lassend — standen seitlings in einer Reihe die Direktoren und Regisseure.

      Sie schrie laut auf. Sie schnellte empor. Sie riss den Geretteten an sich ihren Raub — wie eine Tigerin der Liebe. Ein wilder Triumph verklärte, in einem trotzigen Augenaufchlag der Sünderin zum Himmel, ihr Gesicht. Sie war hinreissend schön in diesem Augenblick. Der drüben sah jetzt erst, welcher Leidenschaft diese Frau fähig war, — was dieser geschmeidige Körper in der Ekstase an Bewegungen hergab. Eine barbarische Urkraft wurde da wach — irgendein Erbteil ihrer Nasse . . . Und mehr noch erwachte . . . schien es ihm . . . obwohl er ja nichts vom Film verstand. Aber es ging ihm doch durch den Kopf: Kann man das spielen, ohne dass man etwas von dieser Verzweiflung — dieser Not innerlich erlebt? . . . Kann man diesen Wahnsinn der Liebe verkörpern, wenn man nicht selber bis zum Wahnsinn liebt . . .?

      Und wenn diese Frau liebt — dann liebt sie meinen Bruder . . . Und dann — mit diesem Menschen — dann ist sie wahrhaftig eine Märtyrerin der Liebe . . . Und schon halb für ihre Verbrechen gestraft . . . . . . . .

      Pfeifenschwirren! Halt! Schluss! Uff! Plötzlich allgemeine Gleichgültigkeit. Die Photographen stürmten nach den Dunkelkammern. Pause bis zur Entwicklung der Platten. Allgemeines Gedränge. Butterbrote. Sekt in Gläsern auf dem Kantinentisch. Bier. Kaffee. Die Musik spielte das Bananenlied.

      „Serr gutt!“ sagte der Russe. „Eine fabelhafte Frau . . .“ Er schien sich für verpflichtet zu halten, dem Günstling der Diva nebent ihm ein paar Komplimente zu machen. „Mindestens fünfzig Meter grosses Spiel . . .! Eine andere Frau — sie leggt sich gleich nachher in der Garderobbe hin — piekt Morphium — schnupft Koks — kippt Kognak — abber sie . . . ist gleich an Telephon gegangen, als wenn nichts wäre . . . Ah . . . Sie sollte unter ihren Namen schreiben: ‚Die Frau mit die unverbrauchten Nerven’. . .“

      Er dachte sich: Jeder Mensch hier auf dem Platz kennt den Namen meiner Geliebten. Nur ich nicht . . .

      „Da kommt Gräfin, zurück“, versetzte der Russe. „Gerade hierher! Sie sucht Sie!“

      Die Nonnenhaube war ihr, nach der Weisung des Italieners, gleich zu Beginn der grossen Szene vom Haupt geglitten. Sie ging jetzt, in ihren vom Hals bis zu den Füssen reichenden Blaufuchspelz gewickelt, mit blossem, glänzend schwarzem Scheitel. Sie sah so wieder ganz anders aus, einer brünetten, russischen Fürstin ähnlich. Sie war noch belebt vom Spiel. Auf den Wanger schimmerte noch ein Hauch von Röte. In den Bewegungen der Glieder verebbte langsam die Leidenschaft zu der früheren Lässigkeit. Sie hatte eine Zigarette im Mund — sie rauchte eigentlich immer — und schob kameradschaftlich ihren Arm unter den ihres Todfeindes und zog ihn beiseite. Man hatte da einen weiten Blick in die Ebene hinaus. Ein grosses Reitergeschwader von gepanzerten Rittern sammelte sich da, hinter vielen harrenden Automobilen, unter Trompetenstössen, zögernd und langsam, auf dem Sturzacker um seine Fähnlein. Ein Regisseur in Zivil galoppierte mit blossem Kopf aufgeregt auf und ab. „Wo ist Mr. Orenstiel?“ tobte er. „Die Leute fangen schon wieder im letzten Augenblick mit Streik an, wenn wir nicht den Tarif verdoppeln! Kinder, es ist zum Wahnsinnigwerden!“

      „De Brieder werden ungemietlich! Sie legen sich schon aufs Drohen!“ meldete ein tiefer Bass aus der Ferne. Auf freiem Feld trat ein Fünfer-Ausschuss von streikenden Kreuzfahrern mit zwei Yankees und einem Dolmetsch zusammen. Man begann, zu verhandeln . . .

      „Ich wurde eben an das Telephon geholt!“ sagte die Frau im Blaufuchspelz zu dem Mann im Gefängniskittel. ‚Mit wem ich gesprochen habe, ist ja gleich — und auch, unter welchen Code-Worten wir uns verständigt haben: Die Hauptsache ist die Nachricht: Ihr Bruder ist — absolut sicher — seit gestern abend in München! . . .“

      „Wo bleibt Ihr Auto?“ Er fuhr auf. Er ballte die Fäuste. „Himmerherrgott . . . Ich muss Ihr Auto haben . . . Ich muss nach München . . .“

      Sie antwortete nicht. Sie hob sich auf den, von den Sandalenriemen geteilten Zehenspitzen, beugte den Oberkörper vor, als ob sie so weiter sehen könne, und spähte in die Ferne.

      „Schläft denn der Kerl . .?“ knirschte er fast lautlos zwischen den Zähnen, während sein Antlitz ruhig blieb. „Wo steckt der Mensch . . . . Ihr Chauffeur . . .? Ich muss nach München . . . Ich muss . . .“

      Ihr Arm streckte sich aus. Ihr Zeigefinger zuckte mit einer jähen Bewegung durch die Luft, in der Richtung nach der Landstrasse. Da fauste etwas zwischen den kahlen Bäumen. Eine Fahne von Herbststaub wehte hinter den fliegenden Rädern. Die Gäule vor den überholten Marktfuhrwerken stiegen. Die Bauern drohten mit erhobener Peitsche hinterher. Arbeiterfrauen sprangen zur Seite und schimpften mit geballten Fäusten. Das Auto war schon weit von ihnen weg.

      „Es kommt . . .“

      „Er fährt achtzig Kilometer!“ murmelte er aufatmend, und sein Auge mass berechnend den Rest der Strecke. „In zwei Minuten ist er da.“

      Beide standen schweigend nebeneinander und starrten. Hinter ihnen rief eine