Doch Barbara ist erleichtert, die Stimme ihres toten Mannes hört sie immer noch so klar. Warum war der eigentlich immer so lästig? So leicht reizbar? Das Wippen ihres Beines wird langsamer, bis es schließlich aufhört. Barbara ist sich gar nicht mehr sicher, ob es überhaupt im Gebüsch geraschelt hat. Denn es ist schön ruhig hier auf der Terrasse, eines Morgens stand sogar ein Reh vor den Büschen. So eine Idylle nennt Barbara ihr Heim. Dass das Reh heimlich die Jungpflanzen frisst, ist ihr noch gar nicht bewusst.
Da der Pool, da die zweite Liege – völlig unbenutzt. Da blühen später die Rosen, und da hinten haben D. und Barbara einmal den Kater und die Katze beerdigt. Der Kater war dick, ein wandelnder Hocker auf vier Beinchen, so sah der aus mit seinen langen Haaren, ein Quadrat, und mit einem Schnurren so laut wie ein Motor. Und die Katze war grazil, irgendwie elegant und wenig verschmust, die wollte mehr Action. Ganz wie D. und Barbara, er ein Hocker, sie so abenteuerlustig. Sie weiß gar nicht, wann die Tiere verstorben sind. Zeit ist für Barbara weniger greifbar denn je. Die Zigarette geht aus, sie steckt sich eine neue an. Was soll’s. Ist eh schön. Mir geht’s gut, denkt sich Barbara. Schöner wär’s nur, wenn die Sonne noch ordentlicher scheinen würde. Heute hängt so ein diesiger Dunst, gänzlich unattraktiv. Spuken kann’s auch bei Sonnenschein. Es muss nicht immer trüb sein.
Sie lehnt sich zurück und wackelt wieder nervös, ihre Hand streift über den Poolliegenaufsatz. So gemütlich. Die Zigarette hängt ihr von den Lippen, der Blick hängt an ihren lackierten Fingernägeln.
Mit einem Satz und einem Jauchzen springt ein weißer Spitz aus dem Gestrüpp, rennt schnurstracks auf sie zu und hechelt aufgeregt. Wer weiß, ob vor Freude oder Durst oder Tollwut, und tut dabei so, als wär das ein ganz gewöhnlicher Vorgang. Als wären sich die beiden schon längst bekannt.
Barbara, die sich so gern fürchtet, hat sich nicht erschrocken, betrachtet den freudig umherhüpfenden Spitz, nimmt erst mal lässig die Kippe aus dem Mund und drückt sie im winzigen Marmoraschenbecher aus, der auf dem Tischchen neben ihrer Liege steht. Der Hund gibt sein Bestes. Er setzt sich artig zu Barbaras Füßen und schaut sie an. Mund auf, Mund zu, Zunge raus, hechel, hechel, die Zunge fährt über ihre Hand. Barbara ist erst in diesem Moment völlig überwältigt und stößt einen spitzen Schrei aus. Jetzt begreift sie erst: Ist die Strafe Gottes ein kleiner, weißer Zuchthund? Der Hund hat keine Ahnung von der tiefen Angst, die sich in Barbara breit zu machen scheint, ist er nur Entzückung und Lobhudelei gewohnt, er schleckt ihr deshalb sanftmütig über das Bein, um ihr die benötigte Zuneigung zu entlocken. Das erinnert Barbara an ihre Krampfadern, und sie lässt die Zuneigung über sich ergehen, als wäre das die verdiente Folter. Sie versucht, sich dran zu erinnern, in welchen Gestalten der Teufel sonst immer auftaucht. Sie hat wohl völlig vergessen, dass sie längst aus der katholischen Kirche ausgetreten ist und sich eigentlich gegen den Glauben entschieden hat. Aber in so einer Gegend, da am Starnberger See, da kann wirklich gut an einen Gott geglaubt werden, so schön ist es da. Und so ein Hund, so ein herangezüchteter, ist ja auch wirklich nicht von dieser Welt.
Der Hund hat keine Zeit für solche Erwägungen, der braucht Nahrung und setzt auf mitleiderregendes Winseln, was sogar die Barbara zurück in die Realität bringt. Kirche! Jesus! Gott!, sie schüttelt den Kopf und wundert sich mehr über sich selbst als über ihren neuen Begleiter. Endlich kommt der Sinn fürs Wesentliche zurück. Sie leert den Aschenbecher in den Pool, den wird sie so schnell eh nicht mehr betreten und steht auf, der Hund springt in die Höh, Barbara geht zur Terrassentür, öffnet diese, geht hinein, nickt dem Hund zu, der keine Einladung mehr gebraucht hätte, und so verschwinden die beiden im Haus. Barbara weiß, was zu tun ist: Küche, Kühlschrank, Fleisch von gestern.
Sie weiß, wie sie das Gewinsel ums Essen abstellen kann.
Das hat sie ihre ganze Ehe lang gewusst. Gefressen wird doch immer gleich.
Dem Hund ist alles Wurst, der stürzt sich auf den Teller, den Barbara just auf den Boden stellt, und frisst in Windeseile alles auf. Sie steht neben ihm, die Hände ineinander geschlagen und ganz gerührt von so einem Appetit. Ein vergessenes Glücksgefühl. In der Zwischenzeit macht der Postbote am Briefkasten herum, und Barbara schaut auf die Uhr. Erst elf. Der Tag ist noch so lang. Der Briefträger ist pünktlich. Brav und vorbildlich. Langweilig und vorhersehbar. Sie schneidet dem Hund noch ein bisschen mehr Fleisch auf. Der Hund liebt sie gerade sehr. Und das fühlt sich gut an.
Also, was ist jetzt zu tun? Wo wird ein fremder Hund gemeldet? Kann schon sein, dass er einer Villentante von einem Seegrundstück abgehauen ist, da würde ich auch fliehen, so ausgschamt san die da drüben – aber dann kommt der ausgerechnet hier an? Das ist ja viel zu weit weg. Hinter dem Gebüsch ist nichts. Ganz lange nichts. Und auf der anderen Seite, also vor dem Haus, da kenn ich mich aus. Da hat niemand so einen Hund. Noch nie gehabt. Der war auch noch nie zu Besuch, des hätt ich doch mitbekommen. Der wird ja nicht an der Loisach entlang spaziert sein bis hierher. So ein Schoßhündchen überlebt doch nicht in der echten Welt. Ach, Schmarrn! Ein bisserl dreckig ist er, aber nicht dreckig genug. Geh, Blödsinn, der ist doch ned durchs Unterholz geirrt. Vielleicht hat ihn jemand an der Bushaltestelle ausgesetzt. Oder einfach hinausgschmissen ausm Auto. Ja, freilich. Was meinst, was der frisst. So ein Rassehund. Sicher nur das Allerfeinste. Irgend so eine Wohlstandsverwahrloste wird den schon verhätschelt haben. Naja, jetzt sagen wir’s mal so: Der Hund kam aus freien Stücken hier an, dann darf er auch bleiben. Jawoll. Ich helfe, wo ich kann. Mei, jetzt schaut er wieder so liab. Vielleicht no a Radl Wurst?
Sie stellt ihm die neu gefüllte Schüssel hin, und der Hund macht keine Anstalten, irgendetwas anderes zu wollen. »Da schau her, Hundi, feines Fleischi!« Der Hund weiß, was feines Fleisch ist. Vielleicht hat er auch tatsächlich ein gutes Gespür fürs Timing, weil lange hätte es Barbara nicht mehr ausgehalten, dann hätte sie vor lauter Langeweile erst ernsthaft Angst und dann wohl doch noch einen Vogel bekommen – und hätte sich wahrscheinlich selbst niedergestreckt. Sie erwartet so sicher eine Bestrafung, dass sie sich permanent selbst bestraft. Eine Bestrafung, weil sie noch lebte, den D. beerdigte, weil sie nicht zuckerkrank ist, weil sie sich auch ein bisschen freut, allein zu sein, den D. nicht mehr im Haus zu haben. Der Ehegatte hat sich überfressen. Passiert. Das ist kein Einzelfall. Und dem hat’s immer geschmeckt. Der D. hat bis zum Schluss versichert, wie fein alles schmeckt. Sie hat ihn zu nichts gezwungen, nein, es war eher umgekehrt: Er hat das Essen eingefordert. Sonst war er noch lästiger. Und wer will freiwillig so einen Grantler zuhause sitzen haben?
»Jetzt muss einmal die Kirche im Dorf gelassen werden. D. war ein erwachsener Mann, der sich selbst in den Tod gefressen hat. Barbara ist lediglich ihrer fraulichen Pflicht nachgegangen und hat für ihn gekocht – das fordert ihr doch von euren Frauen! Ich würd euch alle vergiften!« Das hat Jolie gesagt, kurz nachdem sie auf den Tisch geschlagen hat wie ein Kerl, als die Männer Barbara als Todes-Köchin, als Todes-Gattin verhöhnten. Dann blieb es für einige Minuten mucksmäuschenstill im Wirtshaus. Jolie atmete schwer und setzte sich aufrecht hin, die Männer schauten bedröppelt und erschrocken. So wie Emma, die gar nicht wusste, wie ihr geschah. Jolie reiste ein paar Tage später wieder ab und damit verstummten auch die empörten Männer, die so eine freche Aktion überhaupt nicht gutheißen konnten, aber da hatte die freche junge Frau längst einen Keim in Barbara und in Emma gepflanzt. Barbara merkte, dass sie der Tod des eigenen Mannes auf ungeahnte Weise auch erleichterte. Der Keim sprießt. Die Realität als Witwe. Eine einsame Frau ohne Chance auf eine neue Liebe, denn die gibt es für Frauen in ihrem Alter nicht noch einmal.
Der Spitz ist fertig mit Fressen und möchte jetzt den Bungalow inspizieren, den er sich als neues Heim ausgesucht hat. Barbara folgt ihm und ist zufrieden über die Abwechslung, auch etwas verunsichert, wer weiß, ob der überhaupt stubenrein ist.
Sie greift nach dem Telefon, denn wenn sie eins nicht kann, ist das, gute Neuigkeiten für sich behalten: »Emma, pass auf: Da steht der plötzlich auf meiner Terrass’n, hab ich mich erschrock’n, kannst dir vorstell’n. Hüpft der da aus dem Gebüsch heraus, wie ich nichts-ahnend auf der Liege lieg und mich entspanne. Ja, na freilich, was soll ich denn sonst tun? Aber schau in sei liabs G’sicht, da zergeht dir’s Herz! Ja, eh, wart, ich schick dir gleich ein Foto, gleichzeitig geht das nicht. Du, ganz ehrlich: Ich hab keine Kinder, ich hab Geld auf dem Konto, ich nehm den Hund schon auf, das darfst mir glauben! Mein neuer