„Passt mal auf!“ Jacobsen wies hinüber nach den Häusern. „Seht ihr die weisse Villa dort drüben?“
„Natürlich sehen wir die. Wir sind ja nicht blöd’.“
„Dort wohnt ein reicher Millionär.“
„Millionäre sind gewöhnlich reich.“
„Ein Millionär. Der ist nicht bloss Millionär, sondern auch verreist.“
„Willst du etwa bei ihm einbrechen?“
„Das ist nicht das richtige Wort. Nicht einen Pfennig Geld möchte ich haben. Nicht einen Wertgegenstand. Übrigens sind alle Zimmer dreifach verriegelt und verrammelt. Bloss im Zimmer des Dieners hängen ein paar ganz gut erhaltene Anzüge.“
„Sag’ mal, woher weisst du denn das?“
Ein bisschen verlegen antwortete Jacobsen: „Ich kenne den Diener.“
„So. So.“
„Er hat mir neulich mal erlaubt, eine Nacht in seiner Kammer zu schlafen. Jetzt ist er mit seinem Herrn nach dem Süden gefahren. Ich will euch einen Vorschlag machen. Ich werde hinaufgehen und Anzüge für uns holen. Was meint ihr dazu?“
„Das lässt sich hören.“
„Nur geliehen. Ich werde einen Zettel zurücklassen. Darin verpflichten wir uns, die Anzüge innerhalb einer Woche zurückzubringen. Versteht ihr wohl? Das ist kein Scherz. Das ist ein Vertrag, den wir mit dem Mann schliessen. Ein Ehrenwort, das wir geben. In einer Woche müssen wir es geschafft haben. Bringen wir das nicht fertig, dann passen wir nicht in die Welt; dann sind wir reif für den Kanal. Also hört ihr: Können wir in einer Woche die Kleider nicht zurückgeben, so werden wir heute über acht Tage das tun, was wir heute verschoben haben: wir werden in den Kanal gehen.“
„Gott, ja,“ sagte Reimers. „Warum schliesslich nicht?“
Hieronimy zuckte die Achseln. „Er ist ein Kind. Aber weiss Gott, Kinder picken manchmal im Dunkel auf ein blindes Huhn.“
„Du meinst: ein blindes Huhn pickt manchmal ein ...“
„Das ist doch ganz egal, wer pickt. Mach’ schon und hol’ die Anzüge.“
Jacobsen stelzte, die Hände in den Hosentaschen, quer über den blätterbedeckten Asphalt. Die Dämmerung nahm seine armselige Gestalt auf, und während er drüben in das graue Dickicht hineintrabte, schien er völlig eins zu werden mit den trostlosen Konturen der herbstlichen Bäume. Die beiden sahen ihm schweigend nach. Nun hatte das dunkle Grau ihn vollends verschluckt.
„Ob er wohl wiederkommt?“ sagte Reimers nach einer kleinen Weile.
„Der kommt wieder.“ Hieronimy zwinkerte. In der Tiefe seiner dunklen Augen schien ständig ein verschleiertes Lächeln zu glimmen. „Der kommt wieder.“
„Er ist ein fixer Kerl,“ nickte Reimers. „Ich trau ihm schon zu, dass er was mitbringt.“
„Hm. Bloss kein Geld. Das behält er allein.“
Reimers blickte an sich nieder: ein einziger Knopf baumelte an einem letzten Faden seines Jacketts, das zerbeult und bauchig war von Regen, Wind und Sonne. „Das war mal Marengo,“ lachte er. „Ein güet Fraueli hat ihn mir geschenkt; in Basel. Warst du mal in Basel? Und guck’ mal die Hosen. Wenn die richtig aufgebügelt werden und gewendet und Knöpfe dran kommen, und ein bisschen geflickt, dann kann man sie im Dunkeln immer noch sehr gut tragen.“
„Wenn er das fertigbringt,“ sagte Hieronimy, „und mir einen Anzug besorgt, weisst du: dann kann ich direkt irgend etwas unternehmen. Man geht zum Beispiel in ein Zigarrengeschäft und kauft sich sechs Zigarren und steckt sich eine an. Dann entdeckt man plötzlich, dass man sein Portemonnaie vergessen hat. Was will er machen? Dir die angesabbelte Zigarre aus dem Mund nehmen?“
„Er kann dich verhaften lassen.“
„Mein lieber Junge, du denkst als Vagabund; denk’ mal als feiner Mann. Er macht einen Bückling: ‚Darf ich mir Ihren werten Namen notieren? Nicht wahr, Sie bringen die Kleinigkeit gelegentlich mit vor?‘ Und wenn du Glück hast, gibt er dir die anderen fünf in der Tüte noch mit.“
„Wenn man anständig angezogen ist,“ sagte Jonny Reimers leise, „dann haben die Leute Vertrauen zu einem. Dann kann man Arbeit finden. Sonst denken sie ja doch bloss, man lauert auf eine Gelegenheit, mit dem Silberzeug davonzugehen.“
„Ein bisschen langweilig, das mit der Arbeit,“ meinte der Seemann. „Montag früh fängst du an, und Sonnabend abend machst du glücklich fünfzehn Mark. Wovon willst du von Montag bis Sonnabend leben?“
„Es ist natürlich schwer. Man muss die Zähne zusammenbeissen.“
„Wenn man in Schale ist,“ sagte Hieronimy sinnend, „dann kann man sich mit heransetzen, wenn sie irgendwo Karten spielen. Das lässt sich schon machen; man hat eben kein Kleingeld bei sich, und die Hundertmarkscheine will man doch nicht in den Pot schmeissen. Verstehst du? Du spielst also auf Krampf. Geht’s gut, steckst du deine zehn Mark freundlich lächelnd in die Tasche. Geht’s schief, türmst du.“
„Irgendwo draussen,“ sagte Jonny Reimers und wischte sich den Regen aus dem Haar, „irgendwo draussen ein Häuschen. Und eine liebe Frau. Und vielleicht zwei Kinder.“
„Warum nicht gar eine Geflügelfarm ...“
„Wär’ auch nicht schlecht. Auf jeden Fall: ein paar Hunde, so ein paar rechte, lustige Halunken. Hast du mal junge Hunde gesehen? Das ist schön, weisst du.“
„Die Hauptsache ist eben, dass man auftreten kann. Ich wette mit dir: in einer Woche habe ich tausend Mark gemacht.“
Reimers tat einen Pfiff. „Gibt es denn eine Arbeit, die tausend Mark die Woche einbringt?“
Hieronimy wölbte den Mund, als ob er eine dicke Zigarre rauche. „Pass’ mal auf: ein paar Mark besorgt man sich schon. Man verspricht einer ältlichen Dame, dass man ihr Holz hacken will. Oder: man markiert den Dusslichen, und sie gibt einem einen Taler mit und einen Einholkorb. Oder: man macht was mit einem gut erhaltenen Paletot — so was gibt’s in den Kaffeehäusern und vor den Kleidergeschäften — also kurz und gut: du gehst auf die Zeitung und gibst ein Inserat auf: ‚Zehn Prozent Zinsen pro Woche garantiere ich unternehmenden Kapitalisten.‘ Am andern Morgen um acht reissen sie dir die Klingelschnur kaputt. So was wie Klante-Konzern.“
„Und dann?“ fragte Reimers kopfschüttelnd. „Wie willst du denn zehn Prozent die Woche damit verdienen?“
„Ich mach’ ja nur Scherz.“ Hieronimys Gesicht wurde plötzlich gespannt, und seine Augen hefteten sich auf einen Punkt jenseits der Strasse. Reimers wandte sich herum.
Dort kam Jacobsen, den Arm mit Kleidern bepackt.
„Es hat geklappt,“ keuchte er halb lachend. „Hier ist ein blauer für dich. Hier ist ein schöner Kötteweh. Hier sind braune Stiefel dazu. Und hier dieser schwarz und weiss gestreifte passt mir wie angegossen. Ich habe ihn gleich angezogen. Dann ist hier noch ein Überzieher; einer war bloss da. Den müssen wir abwechselnd tragen.“
„Das ist ja ein nagelneuer Raglan,“ staunte Hieronimy.
Jacobsen nickte. „Fragt sich bloss: wer soll anfangen?“
„Das knobeln wir aus.“
„Unsinn.“ Reimers schob Hieronimy beiseite. „Jacobsen hat ihn gebracht; Jacobsen soll ihn tragen.“
„Geht mal ins Gebüsch und zieht euch um.“
Die beiden verloren sich in der triefenden Dämmerung. Man hörte ein lustiges Pfeifen, und ihre Schritte schienen straffer geworden zu sein.
Jacobsen knöpfte wohlgefällig den dunklen Gürtelmantel zu. Wahrhaftig: hier in der Tasche steckten Nappa-Handschuhe — und in der kleinen Billettasche klimperte