Sagen reloaded. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783707607062
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das Feuerzeug oder holst die Kerze und zündest das Grablicht an und gehst leicht in die Hocke, um sie aufs Grab zu stellen. Und wie damals, einige Tage (oder waren es Wochen?) nach dem Begräbnis, bleibst du kurz hocken, aber diesmal kommt dein ehemaliger Hausarzt, obwohl stramm deutschnational ein Freund deiner Familie, und du schüttelst im Heute den Kopf, nicht vorbei, bleibt nicht kurz stehen, schaut nicht zuerst aufs Grab und dann auf dich, sagt nicht, mit freundlichem Lächeln, nachdenklich »Dein lieber Opa« und du nickst nicht stumm zurück. Und du stehst auf und gehst weiter, den Gräbern entlang, die dir seltsam vertraut, liest hin und wieder einen neuen, doch selten einen unbekannten Namen, gehst bis zum Grab der Mutter deiner ersten Freundin. Und du erinnerst dich an den Moment, als du die Nachricht ihrer Krankheit bekamst, erinnerst dich an das Public Viewing bei der EM 2008 und du weinend im Rathauspark, erinnerst dich aber auch an Ivo Vastićs Elfmetertor, an »Wien-wird-Cordoba« (wurde es nicht) und an deinen Besuch im Krankenhaus, an dein Versprechen, auf ihre Tochter aufzupassen – und wie schnell du es gebrochen, wie wenig sie es gebraucht aber auch – und an das Begräbnis (»Vom Rupertiberg in die Turia«). Und du denkst zurück, an Paris ’98, an Hand-in-Hand und wild schlagendes Herz (wie in schlechten Gedichten) oder an ein halbes Jahr später, an geöffnete Fenster – ihr wart noch Kinder und seid es lange schon nicht mehr (»Hiša očəna, ljuba mamica, da bi jes našel še embart oba; o da bi videl jo, mamico svojo, pa bi spevlav spet haji, hajo.« / »S’ Vaterhaus, die liebe Mutter, könnt’ ich beide noch einmal aufsuchen, oh, sähe ich sie noch einmal, meine Mutter, dann sänge ich wieder haji, hajo«).

      Da reißen dich Schritte aus deinen Gedanken und du drehst dich um, ein alter Mann geht vorbei, du kennst ihn vom Sehen, für ihn aber bist du fremd. Und trotzdem grüßt er dich stumm und du ihn und drehst dich zurück zum Grab, dahinter leuchtet der Mittagskogel golden im Abendlicht (als wäre es eine Klammer). Und du fängst ein Kreuzzeichen an, lässt es aber bleiben und gehst los, gehst Richtung Parkplatz, rechts von dir die Karawanken und links von dir der Kerzenautomat, die Mülltonnen, der Abfallhaufen, und in deinem Rücken die Kirche, das Ovalfenster mit gelbem Glas, dahinter die Taube des Heiligen Geistes, darunter das Kruzifix, daneben die Gedenktafeln für Janko Mikula und Franc Treiber (»K’ sem še mihen bil, sem bil dro vasev, sem večbarti k’tero pesem pev« / »Als ich noch klein war, war ich fröhlich, sang oftmals so manches Lied«).

      Für die Übersetzung von Nmav čriez jizaro bedanke ich mich bei Dominik Srienc – Hvala za pomoč!

       Michaela Debastiani

       Der Zaungast

      Hinter dem Fluss, still und klar, steht ein Wald. Steht da seit dem Anbeginn der Zeit und atmet die Seele der Blätter, saftig und grün. Darin sprechen Tiere, haschen Zweige Nebelfetzen und wenn der Wind durch das Unterholz pfeift, klingt das Lied der Kinder des Waldes bis ans andere Ufer.

      Vor dem Fluss liegen Stämme, dicht an dicht. Liegen da, seit ein Mann sie aus dem Wald geholt hat, und vergießen ihre Nadeln, harzig und frisch. Äxte haben sich an ihren Zweigen verfangen und sie nicht mehr losgelassen, bis der Boden ihre Farben aufgesogen hat. Die Ringe der Zeit tragen die Stämme voll Stolz.

      »Das Feuer ist des Teufels einziger Freund«, sagt der Mann zu seinem Sohn in der Stube, wohlig und warm. »Das sagst du nur, weil du am Zaun die Frau gesehen hast«, antwortet der Sohn. Und es ist wahr! Seit der Mann die Frau am Zaun gesehen hat mit dem Reisighaar und den dürren Fingern, sieht er sie überall.

      Und seit der Teufel, gierig und heiß, das Holz aus dem anderen Land an einem anderen Fluss holt, endlos und weit, schrumpft das Feuer im Kamin des Mannes. Sein Holz verbrennt nicht zu Asche, es knausert und ächzt. Übrig bleiben drei Stück Kohle im Kamin. Sie färben die Hände des Mannes schwarz.

      Der Mann befiehlt den Arbeitern, mehr Holz aus dem Wald zu holen. Ein Kreischen geht durchs Unterholz. Es wächst der Stapel an Brettern neben dem Fluss. In Reih und Glied liegen sie da, die Stämme, kahl geschlagene Tannen und Fichten. Sie haben ihren Stolz verloren und die Stuben bleiben kalt und traurig.

      »Wir müssen schaffen, wie der Teufel!«, ruft der Vater über das Werksgelände. »Das sagst du nur, weil du die Frau am Zaun gesehen hast«, ruft der Sohn zurück. Und es ist wahr! Seit der Vater die Frau am Zaun gesehen hat, kann er an nichts anderes mehr denken. »Siehst du sie auch?« »Klar seh’ ich sie!«

      Der Vater geht zur Bank und holt einen Stapel Geld. Neben dem Fluss wachsen Kräne und Mauern, silbern und grau. Es kreischen die Sägen, es poltern die Motoren, es feuert der Mann seine Arbeiter an. »Sie verlangen ihr Säckel, sonst heizen sie uns ein«, lehrt der Vater seinen Sohn im Büro, geschmackvoll und reich.

      »Das sagst du nur, weil du die Frau am Zaun gesehen hast«, wendet der Sohn ein, als der Vater die Geldscheine zählt. Und es ist wahr! Der Vater zieht den Sohn am Kragen zur Fensterfront im Werkspalast und die Scheine fliegen wie Späne. »Zur Hölle, siehst du sie auch?«, fragt der Vater. »Ja, ja«, sagt der Sohn.

      Es wachsen die Geldstapel, Weihnachten naht. Der Mann sieht die Frau am Zaun bei Tag und bei Nacht. Und er denkt, dass er mehr Holz aus dem Wald holen muss, dass er die Arbeiter und die Banken bezahlen muss und dass er die Lieferanten beliefern muss, dass er in den Stuben der Leute einheizen muss.

      Der Wald steht hinter dem Fluss, still und klar. Rauchige Nebel umhüllen die Wipfel und die Zweige beugen sich dem Schnee, fügsam und leise. Es sprechen die Tiere und die Glocken läuten zur Weihnachtsmesse. Der Sohn und der Vater hüllen sich in Felle, doch als sie am Zaun vorbeikommen, bleibt der Vater stehen.

      »Sie ist da«, flüstert der Vater. Er rauft sich die Haare und zerfurcht sein Gesicht. »Siehst du, wie sie mich anschaut?« »Ich sehe sie!«, haucht der Sohn. Der Vater droht mit dem Besen und stampft mit dem Fuß. Der Sohn zieht den Vater weiter zur Messe und wieder nach Hause. Er bettet ihn warm und sagt ihm gute Nacht.

      Wind pfeift durch das Astloch und treibt den Mann aus dem Bett. Feuer knistert im Kamin. Es zieht ihn hinaus in die rauchige Nacht. Geradewegs geht er auf den Zaun zu. Dort steht die Frau, weht mit weißem Leinengewand. Wie der Mond schimmert ihr Gesicht, umsäumt von Haar, zart wie Federn und Flachs.

      Die Frau verschwindet im Wald, schweigend und still. Da hört der Mann die Kinder des Waldes singen. Er ahnt, dass die Schatten des Unterholzes auf den Lichtungen tanzen. Der Mann öffnet die nebelschweren Pforten seines Zaunes. Als er den Wald betritt, wird er empfangen wie ein lange vermisster Gast.

      In der Stube holt der Mann nicht Kohle, sondern Asche aus dem Kamin. Seine Hände bleiben weiß. Die Zeit hüllt die Kinder des Waldes in stattliche Farben. Die Bretterstapel wachsen und schwinden. Wann immer der Mann seinen Sohn fragt, ob er die Frau am Zaun sieht, lächelt der Sohn und antwortet: »Ja, Vater. Ich sehe sie.« Und es ist wahr.

       Sophie Esterer

      Der Schleuserkönig: Eine sagenhafte Satire

      Ein Bauer aus der Gegend von Al-Qalamoun war in große Not geraten. Er hatte sich das ganze Jahr früh und spät in seinem kleinen Anwesen geplagt, mit großem Fleiß seine Felder bestellt, hatte gepflügt, gejätet und sich im Sommer im Schweiße seines Angesichts mit seinen Kindern um das Einbringen seiner Ernte bemüht. Doch Jahr für Jahr hatte Dürre geherrscht. Auch in diesem Jahr brannte die Sonne unerbittlich vom Himmel. Die Brunnen waren ausgetrocknet, die Pflanzen verkümmerten am Feld. Dann kam der Krieg. Kein Strom, kein Diesel, kein Saatgut, kein Dünger war zu kaufen. Der Bauer hatte Angst, aufs Feld zu gehen. Bewaffnete Kämpfer lauerten dort, nahmen Menschen gefangen. Der Bauer hatte Angst, in die Stadt zu gehen. Er wusste nicht, ob er wieder in sein Dorf zurückkehren dürfte. Als der Bauer dann nach der Ernte den Ertrag des Jahres überblickte, sah er mit Schrecken, dass er nicht genug hatte, um bis zur nächsten Ernte mit seiner Familie das Auskommen zu finden. In früheren Jahren hatte er regelmäßig einen Teil seiner Feldfrüchte auf dem Markt verkaufen können. Diesmal aber verblieb ihm kein Hälmlein und kein Körnlein, das er zu Geld machen konnte. »Das Unkraut deines eigenen Feldes schmeckt besser als der Weizen aus der Fremde«, sagte die Frau des