Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann. Volker Halfmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Volker Halfmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783417229943
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das Liebesgebot gibt! 23

      Bei Jesus sind die Lösungen immer einfach – zumindest einfach zu verstehen: »Nun geh und mach es genauso!« 24

      Die Erzählung vom barmherzigen Samariter ist kein typisches Gleichnis, bei dem die Bildhälfte einer noch zu deutenden Sachhälfte entspricht (wie etwa das Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld 25), sondern es handelt sich hier um eine Beispielerzählung: Der barmherzige Samariter gibt uns ein Beispiel dafür, wo unsere Nächstenliebe gefordert ist und wie sie konkret aussieht. So einfach ist das: Jesus sucht Nachmacher – Menschen, die genau so handeln, wie dieser Samariter gehandelt hat.

      Die Frage nach der Grenze der Nächstenliebe hat sich damit noch nicht erledigt, aber für unser tägliches Handeln tritt sie zunächst einmal in den Hintergrund, da wir genug damit zu tun haben, uns um diejenigen zu kümmern, die seelisch oder körperlich blutend an unserem persönlichen Wegesrand liegen – denn für solche Menschen sind wir der Nächste.

      Jesus, der Samariter

      Das gesamte Gleichnis lässt sich in der Tat in der einen Aufforderung zusammenfassen: »Wenn du das kapiert hast, dann mach es genauso!« Mehr gilt es nicht zu verstehen. Dennoch wurde im Laufe der Jahre sehr viel mehr in diese Erzählung hineingelesen, vor allem durch die allegorische Auslegung, bei der man davon ausgeht, dass ein Text:

      unter dem, was er von sich aus sagt, offensichtlich etwas anderes verbirgt, was einer von anderswoher kommenden Deutung bedarf, und zwar in der Weise, dass die eigentlichen Worte und Glieder des Textes mehr oder weniger vollständig in vergleichender Übertragung durch Begriffe ersetzt werden, die einem dem Wortlaut des Textes fremden, von ihm unabhängigen Sinnzusammenhang angehören. 26

      Mit anderen Worten: Bei der allegorischen Auslegung eines solchen Gleichnisses haben die Hauptfiguren keine eigene Bedeutung, sondern stehen in Wahrheit für etwas ganz anderes, was sich freilich nur dem erschließt, der dies im Glauben zu sehen vermag. Eine solche Auslegung ist mit äußerster Vorsicht zu genießen, da man durch sie letztlich die krudesten Ideen und grausamsten Überzeugungen in eine biblische Geschichte hineininterpretieren kann – was in der Kirchengeschichte leider allzu oft geschehen ist. Dennoch beinhaltet manche Allegorie auch einige Perlen, und zwar immer dann, wenn sie zugleich dem Gesamtzeugnis des Evangeliums entspricht.

      Das gilt auf jeden Fall für die allegorische Auslegung dieses Gleichnisses durch den Reformator Martin Luther. Der barmherzige Samariter ist für Luther:

      durchweg nicht ein beliebiges Beispiel, sondern niemand anders als Jesus Christus selbst …, welcher allein das Doppelgebot der Liebe erfüllt hat. So ist in der Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter für Luther die ganze Heilsgeschichte abgemalt: Ein Mensch (d. h. Adam) fällt unter die Räuber (= Sündenfall und seine Folgen). Priester und Levit (= verschiedene Stufen der alttestamentlichen Heilsgeschichte) helfen ihm nicht. Der Samariter (= Christus) erfüllt ungebeten das Doppelgebot der Liebe und nimmt sich des Halbtoten an, behandelt ihn mit Öl (= Gnade) und Wein (= Kreuz und Leiden), lädt ihn auf sein Tier (d. h. auf sich selbst als das Opfertier), trägt ihn in die Herberge (= Kirche), überlässt ihn der Pflege des Wirtes (= die Prediger) und hinterlässt dazu vor seinem Weggehen (= Himmelfahrt) zwei Groschen (= Altes Testament und Neues Testament) samt der Verheißung seiner Rückkehr (= Wiederkunft). 27

      Wer als heutiger Ausleger über eine solche Allegorese lächelt, der sollte nicht vergessen, dass Luther hier etwas erkannt und hervorgehoben hat, was sicherlich zur Kernbotschaft des Evangeliums gehört: Letztlich ist es Jesus Christus selbst, der uns das eigentliche Vorbild ist, da er wie eben dieser Samariter im Gleichnis handelt – nicht nur einmalig, sondern während seines gesamten Wirkens. Walter Kardinal Kasper fasst in dieser Hinsicht den Befund des Neuen Testaments sehr schön zusammen:

      Jesus hat die Botschaft von der Barmherzigkeit des Vaters nicht nur verkündet; er hat sie selbst gelebt. Er hat sich der Kranken und von bösen Geistern Geplagten angenommen. Er konnte von sich sagen: »Ich bin gütig und von Herzen demütig« (Mt 11,29). Er wird von Mitleid gerührt (σπλαγχνισϑείς), als er einen Aussätzigen trifft (Mk 1,41) oder dem Leid einer Mutter, die ihren einzigen Sohn verloren hat, begegnet (Lk 7,13). Er hat Mitleid mit den vielen Kranken (Mt 14,14), mit dem Volk, das Hunger hat (Mt 15,32), als er die beiden Blinden, die ihn um Erbarmen anrufen sieht (Mt 20,34), mit den Menschen, die wie Schafe ohne Hirten sind (Mk 6,34). Am Grab seines Freundes Lazarus wird er innerlich erschüttert und weint (Joh 11,35.38). In der großen Gerichtsrede identifiziert er sich mit Armen, Hungernden, Elenden, und Verfolgten (Mt 25,31-46). So begegnen ihm immer wieder Menschen, die rufen »Erbarme dich meiner« beziehungsweise »Erbarme dich unser« (Mt 9,27; Mk 10,47 f. u. a.). Noch am Kreuz hat er dem reuigen Schächer verziehen und für diejenigen gebetet, die ihn ans Kreuz gebracht haben (Lk 23,34.43). 28

      Jesus Christus ist die menschgewordene Barmherzigkeit des himmlischen Vaters – das hat Martin Luther erkannt und betont.

      Das heißt dann aber: So zu handeln wie der Samariter im Gleichnis, heißt, so zu handeln, wie Christus handeln würde. Jesus sucht Jüngerinnen und Jünger die bereit sind, das zu tun, was er an ihrer Stelle tun würde. Die Frage ist: WWJD – What would Jesus do?

      Nachfolger sind Nachmacher! Das betont auch Papst Franziskus, wenn er fragt:

      Warum aber wählt Jesus einen Samariter als Hauptperson des Gleichnisses? Weil die Samariter aufgrund unterschiedlicher religiöser Traditionen bei den Juden verachtet waren; und dennoch lässt Jesus erkennen, dass das Herz jenes Samariters gut und großherzig ist und dass er – im Unterschied zum Priester und zum Leviten – den Willen Gottes in die Praxis umsetzt, dem mehr an Barmherzigkeit als an Opfern liegt (vgl. Mk 12,33). Gott will immer die Barmherzigkeit und nicht die gegen alle gerichtete Verurteilung. Er will die Barmherzigkeit des Herzens, weil er barmherzig ist und unsere Armseligkeiten, unsere Schwierigkeiten und auch unsere Sünden gut zu verstehen weiß. Gib uns allen dieses barmherzige Herz! Der Samariter tut genau das: Er ahmt die Barmherzigkeit Gottes nach, die Barmherzigkeit gegenüber den Bedürftigen. 29

      Partizipieren statt Imitieren

      Als wir kleine Kinder waren, waren meine älteren Brüder überhaupt nicht davon begeistert, wenn ich sie nachmachte. Kam einer von ihnen etwa auf die tolle Idee, aus LEGO-Steinen ein Raumschiff zu bauen, so machte ich das selbstverständlich auch. Und wenn ich mein Bauwerk dann stolz präsentieren wollte, waren sie ziemlich sauer auf mich: »Du bist ja nur ein oller Nachmacher!« In diesem Zusammenhang war das Nachmachen also völlig unerwünscht. Und ein »Nachmacher« war damals jemand, der zu doof oder zu ungeschickt ist, um etwas Eigenes hinzubekommen – eben ein typischer Loser.

      In der Jesus-Nachfolge ist das anders, denn Jesus ruft seine Jüngerinnen und Jünger ausdrücklich dazu auf, ihn nachzumachen, etwa indem er ihnen die Füße wäscht und anschließend erklärt: »Ich habe euch ein Beispiel gegeben, dem ihr folgen sollt.« 30 Jesus ist nicht beleidigt, wenn wir ihn nachahmen, sondern er erwartet dies von uns! Eines ist jedoch hier schon wichtig zu verstehen:

      Wenn Jesus davon spricht, ihn nachzumachen, dann meint er damit nicht, ihn aus eigener Kraft zu imitieren, sondern an ihm zu partizipieren, also an seiner Liebe und Kraft Anteil zu haben. Das ist ein entscheidender Unterschied!

      Als Jugendlicher habe ich verzweifelt versucht, meinen älteren Bruder nachzumachen, der es als äußerst talentierter Handballtorwart bis in die Auswahl der deutschen Jugend-Nationalmannschaft geschafft und später in der zweiten Handball-Bundesliga gespielt hat. Das brachte ihm natürlich einiges an väterlicher Anerkennung, die ich auch gerne gehabt hätte. Bei dem Versuch, es ihm gleichzutun, scheiterte ich jedoch kläglich.

      Bei einem Spiel unserer Handball-Schülermannschaft stand ich beispielsweise zunächst im Tor, während mein Vater oben auf der Tribüne saß und mir zuschaute. Leider war meine Leistung dermaßen ungenügend, dass ich bereits nach rund 15 Minuten ausgewechselt wurde. Als ich mit meinem Vater im Auto saß und wir nach Hause fuhren, verloren wir kein einziges Wort über das Spiel, denn hätten wir das getan, dann hätten wir auch über meine Leistung sprechen müssen. Und das wäre