Bereits der Einstieg in den über eintausend Höhenmeter hinabführenden Pfad wurde die »Blutsteige« genannt, da jeder wusste, dass hinter diesem Einstieg die Gefahr lauerte. Diesen Weg alleine zu gehen war also ziemlich verantwortungslos – es war geradezu eine Einladung, überfallen zu werden. Und eben dies könnte man unserem Reisenden natürlich vorwerfen, als er blutüberströmt und halb tot am Wegesrand liegt: »Wie kann man nur so blöd sein und sich in eine solche Gefahr begeben? Jeder weiß doch, dass es in dieser Gegend von Räubern nur so wimmelt. Tja, mein Freund, nun musst du selbst schauen, wie du hier wieder rauskommst. Wer nicht hören will, der muss halt manchmal fühlen.« So in etwa würde die typische Reaktion eines Besserwissers lauten, der selbst über jeden Fehler erhaben erscheint und den das Leid des Überfallenen völlig kaltlässt. Der Barmherzige jedoch verzichtet auf solche Belehrungen und tut stattdessen das, was wirklich vonnöten ist: Er packt an, um zu helfen und Leben zu retten.
Barmherzigkeit kennt keine Auswahlkriterien, sie gilt auch jenen, die ihr Leiden selbst verschuldet haben! Wer sich mit dieser Vorstellung schwertut, der sollte sich von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass Gottes Barmherzigkeit genauso handelt. Auch sie gilt jenen Menschen, die sich durch ihren Ungehorsam und ihr unachtsames Verhalten selbst in Todesgefahr begeben haben. Wer darum heute als Christ lebt, wer Jesus Christus nachfolgt und Gott seinen Vater nennt, der kann dies nur, weil Gott eingegriffen und angepackt hat, indem er in Jesus Mensch geworden ist und die Welt mit sich versöhnt hat: »Gott ist so barmherzig und liebte uns so sehr, dass er uns, die wir durch unsere Sünden tot waren, mit Christus neues Leben schenkte, als er ihn von den Toten auferweckte. Nur durch die Gnade Gottes seid ihr gerettet worden!« 14
Das Kennzeichen von Gnade ist, dass man sie nicht verdient hat und sie sich auch nicht verdienen kann. Gottes Barmherzigkeit gilt uns gerade nicht, weil wir so tadellos wären, dass er einfach nicht anders kann, sondern weil er unser Elend gesehen hat und ihm das, was er gesehen hat, zu Herzen gegangen ist.
Persönliche Schicksale
Jeder von uns ist früher oder später auf Barmherzigkeit angewiesen. Mir ist noch kein Mensch begegnet, der nicht an irgendeiner Stelle seines Lebensweges »unter die Räuber« gekommen wäre, wobei diese Räuber sehr verschieden aussehen können. Hier nur eine kleine Auswahl von Menschen, denen ich begegnet bin und die sich ihr Leben eigentlich ganz anders vorgestellt hatten:
Ich stehe in der Halle des Hamburger Hauptbahnhofes und frage mich, was ich mit den verbleibenden zweieinhalb Stunden machen soll, da fällt mein Blick auf Georg. Der alte Mann hockt in einer offenen Fotokabine, stützt sich auf seinen Handwagen und kämpft gegen den Schlaf. Sein verwahrlostes Erscheinungsbild deutet darauf hin, dass er auf der Straße lebt und hier im Bahnhof Pfandflaschen sammelt. Sein Anblick geht mir zu Herzen; deshalb gehe ich zu ihm und frage ihn, ob er Lust hat, mit mir zu essen. Zunächst ist er misstrauisch, doch nach ein paar Erklärungen sagt er schließlich zu. In den kommenden zwei Stunden erfahre ich durch Georg sehr viel darüber, wie schnell die eigenen Lebensträume zerplatzen können.
Georg ist 71 Jahre alt und lebt seit sieben Jahren auf der Straße. Aufgrund seines schlurfenden Gangs hatte ich zunächst gedacht, er sei alkoholisiert, doch das ist nicht der Fall. Georg leidet unter »MG« (Myasthenia gravis), einer seltenen neurologischen Erkrankung, die zu Lähmungen führt und von den Augen auf den ganzen Körper übergehen kann. Wenn dies der Fall ist, sind die Chancen auf eine Heilung gering, vor allem dann, wenn die Krankheit erst relativ spät diagnostiziert wurde. Und genau dies ist bei Georg der Fall. Aufgrund seiner Lähmungserscheinungen musste er seinen Beruf als Technischer Zeichner aufgeben, doch lange Zeit konnte keine Ursache gefunden werden. In seiner Verzweiflung betäubte er sich mehr und mehr mit Alkohol, was schließlich zur Trennung von seiner Frau führte.
Georg ist der typische Fall eines Menschen, bei dem es kein Schwarz oder Weiß, kein Gut oder Böse gibt. Er ist eindeutig »unter die Räuber« gekommen, hat aber infolgedessen auch eigene Fehler gemacht. Er hat sein Leben vor die Wand gefahren. Hier, im Bahnhof, darf er in einem gekennzeichneten Wartebereich von Mitternacht bis morgens um 5 Uhr übernachten, danach schlurft er durch die Gegend auf der Suche nach einem Platz, an dem er ungestört die vorbeihetzenden Geschäftsleute beobachten kann. »Alles ist schneller, hektischer und unpersönlicher geworden«, meint Georg. Dennoch steckt ihm von Zeit zu Zeit jemand ein paar Euro zu und Georg ist sich sicher, dass dies an seiner freundlichen Ausstrahlung liegt.
Während wir uns unterhalten, kommt Mareike zu uns, um von Georg eine Zigarette zu schnorren. Mareike ist voll bis unter die Haarspitzen und kann sich nur noch schwer artikulieren. Wenn es stimmt, was sie mir erzählt, dann hat sie vor zwei Jahren ihren Mann durch einen tragischen Autounfall verloren – da waren sie gerade mal zehn Wochen verheiratet. Das hat sie völlig aus der Bahn geworfen. Inzwischen ist sie im Methadon-Programm und muss sich jeden Tag die fünf Euro Rezeptgebühr erbetteln.
Während sie das erzählt, knufft Georg mich in die Seite und gibt mir ohne ein Wort zu verstehen: »Komm schon, Kumpel, die fünf Euro kannst du doch locker verkraften.« Also kaufe ich für alle eine Brezel sowie einen Kaffee und stecke Mareike auch noch die fünf Euro zu, worauf sie sich überschwänglich bedankt und mehrfach betont, ich hätte ihr den Tag gerettet. Etwas skeptisch frage ich mich, worin diese Rettung wohl konkret bestehen wird – aber dennoch habe ich das Gefühl, das Richtige getan zu haben.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass ich alles andere bin als die männliche Variante von Mutter Teresa. Solche Begegnungen wie die mit Georg und Mareike hatte ich bislang nicht sehr oft, da ich diese Menschen viele Jahre gar nicht wahrgenommen habe. Falls ich sie doch gesehen habe, so hat mich ihr Anblick wohl meistens kaltgelassen. Das hat sich erst in den letzten Jahren langsam verändert. Wenn ich heute durch eine Stadt wie Hamburg gehe, dann stelle ich erschrocken fest, wie weit die Schere zwischen Arm und Reich dort auseinandergeht. Während die Geschäftsleute mit ihren Business-Koffern zum nächsten Termin eilen, hocken in zahlreichen Hauseingängen Obdachlose in ihren Schlafsäcken und hoffen darauf, dass für sie ein paar Euro abfallen. Während japanische Touristen zur nächsten Sehenswürdigkeit geführt werden, torkelt eine Gruppe Betrunkener über die Straße und sorgt für ein Verkehrschaos. Ich will hier nicht schwarzmalen – diese Stadt hat sicherlich ihre liebenswerten Seiten. Doch wer die Augen nicht verschließt, der sieht auch sehr viel Elend: Drogenhandel, Obdachlosigkeit, Armut, Prostitution und Gewalt.
Ich bin kein Sozialromantiker! Mir ist völlig klar, dass es wesentlich mehr Anstrengungen braucht, als das, was ich getan habe, um diesen Menschen zu helfen. Auch ist mir bewusst, dass es vorschnelle Hilfeleistungen gibt, die im Ergebnis nach hinten losgehen und das Elend nicht verringern, sondern es geradezu fördern (vermutlich kennt jeder den Rat, einem Obdachlosen kein Geld zu geben, da er es an der nächsten Ecke versaufen wird). Das alles weiß ich. Dennoch kann ich an der Not dieser Menschen nicht länger achtlos vorbeilaufen. Und je mehr ich ihre Geschichten höre, umso mehr wird mir klar, dass es das Schicksal bislang recht gut mit mir gemeint hat (wobei ich als Christ wohl eher sagen würde, dass Gott mich reich beschenkt hat). Darum halte ich es für ein Gebot der Barmherzigkeit, etwas davon weiterzugeben.
Die vielen Argumente hingegen, mit denen wir zu erklären versuchen, warum eine spontane Hilfe ungenügend oder gar kontraproduktiv wäre, scheinen mir der hilflose Versuch zu sein, solche Menschen auf Abstand zu halten und sie mit reinem Gewissen links liegen zu lassen. Etwas Hilfe geht nämlich immer!
Im Wartebereich der Caritas-Kleiderkammer sitzt die junge Alia und schaut sich ängstlich in dem überfüllten Raum um. Sie ist seit vierzehn Monaten in Deutschland und kann sich mit ihren bislang erworbenen Deutschkenntnissen so einigermaßen verständigen. Durch Dritte erfahre ich von ihrer Geschichte – und die schnürt mir das Herz zusammen:
Alia stammt aus Syrien und war dort eine fleißige Schülerin, bevor sie aufgrund des Krieges gemeinsam mit ihrem Bruder nach Ägypten ziehen musste. Ohne Arbeitserlaubnis lebten sie dort am Rande der Gesellschaft und beschlossen, nach Europa zu fliehen, um dort ein neues Leben in Freiheit