Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann. Volker Halfmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Volker Halfmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783417229943
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völlig überfülltes Fischerboot gezwängt. Bereits nach wenigen Seemeilen ging das Benzin aus und immer mehr Wasser drang in das marode Boot. Die Kinder schrien in ihrer Todesangst und ihre Mütter fingen an, laut zu beten. Als das Boot schließlich sank, klammerte sich Alia, die nicht schwimmen konnte, verzweifelt an einen Rettungsring. In den nächsten Stunden musste sie mit ansehen, wie zahlreiche Flüchtlinge den Kampf ums Überleben verloren. Einige von ihnen zogen einfach ihre Rettungswesten aus und versanken im Meer. Unter ihnen war auch die Mutter des kleinen Esat. In dem Wissen, dass sie bald sterben würde, übergab sie ihren Sohn Alia und bat sie, sich um ihn zu kümmern. Zwei weitere Tage vergingen, in denen Alia versuchte, sich und den kleinen Esat über Wasser zu halten und die Hoffnung nicht aufzugeben. Schließlich wurden sie von einem Handelsschiff gesichtet und an Bord genommen. Wie durch ein Wunder überlebten Alia und der kleine Esat, doch bis zu fünfzig Menschen ertranken im Mittelmeer, darunter auch ihr Bruder.

      Nun sitzt mir diese schwer traumatisierte junge Frau gegenüber, die verzweifelt versucht, das alles hinter sich zu lassen. Ob das ohne fachliche Hilfe gelingen kann – bei allem, was sie durchgemacht hat? Ich weiß es nicht, aber ich kann ihr an diesem Tag zumindest ein guter Zuhörer sein, jemand der sie willkommen heißt und ihr etwas Mut zuspricht. Auch das ist bereits ein kleiner Akt der Barmherzigkeit. Die weitaus größere Barmherzigkeit aber geht von den vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern in der Kleiderkammer aus, die sich für Menschen wie Alia einsetzen, weil ihnen ihr Schicksal zu Herzen geht.

      Als ich früher Zeitungen austrug, begegnete mir Elena. Morgens um vier Uhr stand sie auf ihrem Balkon und flehte mich an, ihr von der nächsten Tanke eine Flasche Wodka zu besorgen. Ich unterbrach meine Tour und ging zu ihr in die Wohnung, wo sie mir ihre Geschichte erzählte: Elena war über mehrere Jahre sexuell missbraucht worden, sowohl von ihrem Vater als auch von ihrem Onkel. Ihre Mutter wusste davon, doch sie war zu schwach, um etwas dagegen zu unternehmen. Mit den Jahren lernte Elena, den unerträglichen Schmerz in ihrer Seele zu betäuben und zu verdrängen. So wurde sie letztlich suchtkrank, abhängig von Medikamenten und vom Alkohol. Schon mehrmals war sie zur Entgiftung und in Therapie gewesen, doch immer zusammen mit Männern, die zu ihrem Täterkreis gehören könnten und ihr Leiden noch verstärkten. Es gibt Kliniken für traumatisierte Menschen und Kliniken für Alkoholkranke, aber die allerwenigsten von ihnen sind auf beides spezialisiert. Und so fand sie über Jahre nicht die passende Hilfe.

      Damals war ich mit dieser Begegnung schlichtweg überfordert. Immerhin weigerte ich mich konsequent, ihr Alkohol zu besorgen. Stattdessen bot ich Elena an, sie in ein Krankenhaus zu fahren. Aber das lehnte sie kategorisch ab. Soweit ich mich erinnere, klingelte ich ein paar Tage später noch einmal bei ihr, doch da öffnete sie nicht.

      Mir ist jedoch in lebhafter Erinnerung geblieben, wie urplötzlich auf meinem Lebensweg Menschen auftauchen können, deren Lebensträume zerplatzt sind, weil sie unter die Räuber gekommen sind: Menschen, die geschlagen und erniedrigt wurden und die man halb tot zurückgelassen hat. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist viel mehr als ein literarisches Meisterwerk, es ist die bittere Wahrheit, die sich Tag für Tag tausendfach wiederholt.

      Steffi ist Ende vierzig und hat vor Kurzem ihren Ehemann verloren. Nach zwei schweren Jahren mit Bestrahlungen, Chemotherapie und immer neuen Krankenhausaufenthalten hat der Krebs gesiegt und seinem Leben ein Ende gesetzt. Steffi ist am Ende und fällt in eine tiefe Depression. Wer ihr begegnet und die Fähigkeit besitzt, genau hinzuschauen, der sieht eine völlig verzweifelte Frau, die keinerlei Lebensmut mehr besitzt. Als sie ihren Mann kennenlernte, war er bereits an Krebs erkrankt, aber beide hofften auf Heilung und damit auf ein langes gemeinsames Leben. Doch diese Hoffnung wurde bitter enttäuscht. Inzwischen sind vier Wochen vergangen, seit ihr Mann beerdigt worden ist, und alle um sie herum gehen ihren gewohnten Alltagspflichten nach. Irgendwie scheint das Leben an ihr vorbeizulaufen. Was Steffi jetzt braucht, sind Menschen, die nicht achtlos an ihr vorübergehen, sondern fühlen, was sie sehen. Solche Menschen werden für sie da sein, sie besuchen und einfach zuhören.

      Werke der Barmherzigkeit sind nicht immer aufwendig, ganz im Gegenteil: Oft sind es kleine Gesten der Zuwendung, die einen Leidenden wieder aufrichten können. Doch auch wenn sie noch so klein sind, sie geschehen nicht einfach von selbst, sondern kommen aus den Herzen von Menschen, die in der Lage sind, mitzufühlen.

      Gudrun ist 83 Jahre alt und hat ihr halbes Leben in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung inmitten der Stadt verbracht, im Erdgeschoss eines vierstöckigen Mietshauses. Schon sehr viele Menschen hat sie in den vergangenen Jahren kommen und gehen sehen, doch sie ist immer geblieben. Warum soll sie auch woanders hin? Hier fühlt sie sich wohl, hier ist ihr Zuhause und hier wird man sie auch eines Tages raustragen müssen – so stellt sie sich das vor. Doch dann kommt ein Brief, der ihr den Boden unter den Füßen wegzieht. Bereits vor einigen Monaten hat man damit begonnen, das Haus zu renovieren: Da wurde irgendetwas am Dach gemacht und auch die Heizung schien wohl erneuert zu werden. »Soll mir nur recht sein«, dachte Gudrun, »vielleicht wird es dann ja mal richtig warm in meiner Wohnung.« Nie aber hätte sie sich träumen lassen, dass diese Arbeiten zur Katastrophe führen könnten, zur Katastrophe ihres drohenden Auszugs. In dem Brief steht schwarz auf weiß, dass sich ihre monatliche Miete um 260 Euro erhöhen wird – und dieses Geld hat sie nicht!

      Gudrun ist am Boden zerstört und hat niemanden, an den sie sich wenden könnte. Mehr und mehr zieht sie sich zurück, grüßt nicht einmal mehr die netten jungen Leute von nebenan. Gudruns Hausarzt verschreibt ihr regelmäßig Schlaftabletten und da sie immer vorsorgt, hat sie inzwischen eine ganze Schublade voller Tabletten. Vermutlich wird man sie wirklich bald raustragen aus ihrer Wohnung. Es sei denn, es gibt in ihrem Umfeld Menschen, die sie wahrnehmen, ihre Verzweiflung sehen und daraufhin tun, was sie können, um ihr zu helfen.

      Das Weinen lernen

      Dennis ist elf Jahre alt und wurde schon mehrfach von der Polizei aufgegriffen. Er zeigt massive Verhaltensauffälligkeiten, ist aggressiv, hat eine sexualisierte Sprache und bedient sich bei seinen Schimpftiraden einiger Nazi-Ausdrücke. Ein Zuhause hat er nicht mehr, da seine Eltern inzwischen vor Gericht stehen – ihnen wird Verletzung der Fürsorgepflicht sowie schwere Misshandlung vorgeworfen. Als Dennis in staatliche Obhut gekommen ist, war sein Gesundheitszustand besorgniserregend: Er hatte zahlreiche Prellungen, war unterernährt, seine Kleidung war zerrissen, er war verlaust und seine Zähne waren allesamt stark von Karies befallen. Inzwischen geht es ihm körperlich deutlich besser, doch was ist mit seiner Seele? Was wird aus einem Kind, wenn es statt Liebe nur Prügel erhält? Sind solche seelischen Wunden überhaupt heilbar?

      Seit ein paar Wochen besucht Dennis regelmäßig »Die Arche«, ein christliches Kinder- und Jugendhilfswerk mitten in der Stadt. Die Mitarbeitenden dort haben es nicht gerade leicht mit ihm. Dennoch investieren sie eine Menge Zeit, Kraft und Geld, um Kindern wie ihm zu vermitteln, dass sie einzigartige und geliebte Geschöpfe Gottes sind. Einrichtungen wie »Die Arche« werden getragen von Menschen, denen das Leid der Kinder zu Herzen geht und die noch nicht verlernt haben, zu weinen. Auch Papst Franziskus weist darauf hin, wie wichtig es ist, angesichts des Elends von Kindern weinen zu können:

      Gewisse Realitäten des Lebens sieht man nur mit Augen, die durch Tränen reingewaschen sind. Ich lade jeden von euch ein, sich zu fragen: Habe ich gelernt, zu weinen? Habe ich gelernt zu weinen, wenn ich ein hungriges Kind sehe, ein Kind unter Drogeneinfluss auf der Straße, ein obdachloses, ein verlassenes Kind, ein missbrauchtes Kind, ein von der Gesellschaft als Sklave benutztes Kind? Oder ist mein Weinen das eigensinnige Weinen dessen, der weint, weil er gerne noch mehr haben möchte? Das ist das Erste, was ich euch sagen möchte: Lernen wir, zu weinen! …

      Jesus – im Evangelium – hat geweint. Er weinte um seinen verstorbenen Freund. Er weinte in seinem Herzen um diese Familie, die ihre Tochter verloren hatte. Er weinte in seinem Herzen, als er die arme Witwe sah, die ihren Sohn zu Grabe trug. Er war innerlich bewegt und weinte in seinem Herzen, als er die Menschen wie Schafe ohne Hirten sah. Wenn ihr nicht lernt zu weinen, seid ihr keine guten Christen. Und das ist eine Herausforderung. Jun Chura und seine Gefährtin, die heute gesprochen haben, haben uns diese Herausforderung gestellt. Und wenn sie uns fragen: Warum leiden die Kinder? Warum geschieht dies oder jenes Traurige im Leben? – dann möge unsere Antwort entweder Schweigen sein oder ein Wort, das aus Tränen geboren