Als Frederica begann, sich nach der Familie ihrer Mutter zu erkundigen, war es Philipp, der dem Mädchen erklärte, ihre Großeltern wären schon vor langer Zeit gestorben. Frederica wusste, dass ihre Mutter aus Schottland kam, sonst hatte Maureen ihr aber nicht viel erzählt. Frederica interessierte sich auch nicht für das Land, das irgendwo weit im Norden lag, und gab sich mit den spärlichen Angaben über Maureens Vergangenheit zufrieden.
Erst als die Sonne am Horizont versank, merkte Maureen, wie lange sie gesessen und sich in Erinnerungen verloren hatte. Das Gartenfest ging jetzt seinem Ende entgegen, Philipp und Frederica würden bald nach Hause zurückkehren. Dann musste sie Philipp den Brief zeigen. Und sie würde ihrem Vater schreiben ... Nein, sie würde ihm nicht schreiben! Ein kühner Gedanke schoss wie ein Blitz durch Maureens Kopf und nahm Gestalt an. Behände sprang sie auf und lief aufgeregt auf und ab. Sie würde nicht schreiben, sie würde zu ihm fahren, nach Edinburgh! Es war ihr gleichgültig, was Philipp davon halten würde. Er würde seine Zustimmung verweigern, sie musste aber reisen! Der Brief war ein Zeichen, vielleicht ein Fingerzeig Gottes, und vielleicht würde es endlich zu einer Aussöhnung kommen. Maureen konnte nicht für den Rest ihres Lebens ihre Familie und ihre Heimat verleugnen. Es herrschte Frieden im Land, die Reise würde zwar beschwerlich, aber sicher sein. Maureen schmunzelte, wenn sie sich vorstellte, wie entrüstet Esther Linnley reagieren würde, wenn sie ohne Philipps Erlaubnis nach Schottland reisen und ihre Eltern aufsuchen würde. Lady Esther verstand es meisterhaft, vor allen Unannehmlichkeiten die Augen zu verschließen und sich vorzumachen, wenn man keine Schwierigkeiten sah, dann gab es auch keine. So einfach ging das in Lady Esthers Augen. Nur war das Leben selbst leider nicht so einfach.
Nachdem Maureen diese Entscheidung getroffen hatte, fühlte sie sich plötzlich voller Elan und Lebenskraft, als wäre sie wieder das junge Mädchen. Sie würde Schottland wiedersehen! Sie würde in ihr Heimatland zurückkehren! Maureen wusste in diesem Moment: Wenn sie nicht jetzt die Chance ergriff, endlich wieder einen Fuß auf schottischen Boden zu setzen und ihre Eltern zu besuchen, würde sie sich das niemals verzeihen. Sie war Hals über Kopf geflohen, den jungen schneidigen Offizier im Herzen, und dabei hatte sie keine Vorstellung davon gehabt, was es bedeutete, seine Wurzeln aufzugeben. Vielleicht war sie nach dieser Reise in der Lage, mit ihrer Vergangenheit Frieden zu schließen. Am liebsten hätte sie sofort nach ihrer Zofe geklingelt und den Befehl gegeben, umgehend mit dem Packen zu beginnen.
George Linnley hatte Fredericas Hoffnungen erfüllt. Zu Lady Esthers Bedauern war die von ihr erwartete junge Erbin wegen einer plötzlichen Krankheit nicht gekommen, so richtete sich Georges volle Aufmerksamkeit Frederica, und er wich kaum von ihrer Seite. Nun konnte auch Lady Esther nicht mehr leugnen, dass ihr Sohn Interesse an dem Mädchen zeigte. Ebenso empört war sie über Maureen, die sie einfach im Stich gelassen hatte, und hielt Philipp gegenüber mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg. Es kostete sie einige Mühe, gegenüber dem Bischof eine freundliche Miene aufzusetzen. Glücklicherweise musste sie ihn nicht unterhalten, denn der Geistliche hörte sich selbst am liebsten reden. Diese Eigenart, die Lady Esther eigentlich zutiefst verabscheute, führte sie doch am liebsten selbst das Gespräch, kam ihr heute äußerst gelegen. Esther Linnley war froh, als sie den Bischof bei Tisch ihrem Mann anvertrauen konnte. Sollte doch Lord Linnley das unentwegte Geschwätz des Geistlichen über sich ergehen lassen! Mit der Entschuldigung, beim Verkaufsstand nach dem Rechten sehen zu müssen, eilte sie davon, um ihren Sohn ausfindig zu machen. So ein Pech, dass die Verwandte erkrankt war und somit beim Fest nicht dabei sein konnte. Hoffentlich neigte Pamela March nicht generell zu Unpässlichkeiten und war leidend, sie sollte George schließlich gesunde und kräftige Erben schenken. Lady Esther hatte bereits die Dekoration, mit der Linnley Park am Tage der Hochzeit geschmückt werden würde, durchdacht. Natürlich musste die Trauung hier stattfinden, davon würde sie die Brauteltern schon überzeugen. Was für ein nettes und liebes Mädchen diese Pamela doch war! Bestimmt wusste George das große Glück, sie zur Frau zu bekommen, zu schätzen.
Sie umrundete eine Rhododendronhecke und blieb wie angewurzelt stehen. Sie keuchte und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Nur wenige Schritte entfernt war ihr Sohn im Begriff Frederica Trenance zu küssen, die mit glänzenden Augen zu ihm aufschaute. Aus ihrer Frisur hatten sich einige Strähnen gelöst, und unter ihrem verrutschten Schultertuch zeigte sich unsittlich der Ansatz ihrer festen, weißen Brüste. Alles deutete darauf hin, dass George und sie keinesfalls nur miteinander geplaudert hatten.
»George!« Lady Esthers Stimme klang schrill. Der Angesprochene fuhr erschrocken herum, hielt Frederica jedoch mit seinem Arm schützend umschlungen. »Wie kannst du nur!«
Frederica war nicht weniger bestürzt und senkte für einen Moment schuldbewusst den Blick, dann aber straffte sie die Schultern, hob den Kopf und streckte das Kinn nach vorn. Georges Hand an ihrer Taille verlieh ihr Selbstbewusstsein.
»Dein Vater sucht dich.«
Mit hektischen roten Flecken auf den Wangen trat Lady Esther wie ein Racheengel vor die beiden. Zu Fredericas Enttäuschung nahm George seine Hand fort und murmelte: »Ich gehe sofort zu ihm, Mutter.«
Ohne Frederica einen weiteren Blick zu gönnen, eilte er mit weitausholenden Schritten über den geharkten Kiesweg, und das Mädchen stand Lady Esther allein gegenüber.
»Und du, Kind, löst Lady Seelwood umgehend am Stand ab! Die Arme harrt bereits seit Stunden dort aus, weil deine unzuverlässige Mutter es vorgezogen hat, ihr Versprechen zu brechen.«
Fredericas Selbstbewusstsein bröckelte unter Lady Esthers eisigem Blick. Warum musste sie ausgerechnet in diesem Moment auftauchen? Nie zuvor war sie George so nah gewesen. Nur einen Augenblick später und er hätte sie geküsst. Und danach – davon war Frederica überzeugt – hätte er ihr einen Heiratsantrag gemacht, denn ein ehrenwerter Mann küsste eine Frau nur, wenn er sie auch heiraten wollte. Frederica hatte zwar schon beobachtet, wie Dienstboten miteinander flirteten, ohne dass das eine tiefere Bedeutung hatte, einer Dame der Gesellschaft war es erst nach dem Verlobungstag erlaubt, sich allein mit ihrem Bräutigam in einem Raum aufzuhalten. Vielleicht wäre sogar schon heute ihre Verlobung verkündet worden?
Frederica erinnerte sich noch gut an den Skandal, der vor wenigen Monaten das Gesprächsthema der ganzen Grafschaft gewesen war: Ein junger Adliger, der allein am späten Nachmittag mit einem Mädchen in deren Einspänner ausgefahren war, weigerte sich am darauf folgenden Tag, das Mädchen zu ehelichen. Obwohl beide beteuerten, es sei nichts geschehen – was genau überhaupt geschehen sein könnte, lag für Frederica noch immer im Dunkeln –, forderte der Vater des Mädchens den jungen Mann zum Duell. Er verwundete ihn schwer, und das Mädchen wurde daraufhin zu Verwandten in den Norden geschickt. Die gesamte feine Gesellschaft zeigte sich entrüstet über das Verhalten des jungen Adligen und war sich einig, dass der Vater des Mädchens zu recht Satisfaktion gefordert hatte. Wenn ein Mann ein Mädchen also heiraten musste, weil er am helllichten Tage mit ihr ausgefahren war, dann musste sie mit George Linnley nun so gut wie verlobt sein.
Frederica seufzte und bedauerte, dass ihre Mutter nicht hier war. Sie musste unbedingt mit ihr darüber sprechen, obwohl sie wusste, dass Maureen George Linnley nicht besonders mochte. In Fredericas Augen war George nicht nur äußerst attraktiv, er verfügte auch über gute Umgangsformen und Manieren, und tanzte wie ein junger Gott. Wenn sie nur an ihn dachte, begann ihr Herz heftig zu klopfen, wenn sie in seiner Nähe war, konnte sie kaum einen klaren Gedanken fassen. Frederica wusste nicht viel über die Liebe, das alles musste aber doch bedeuten, dass George der Richtige für sie war. Frederica hätte sich zwar andere Schwiegereltern gewünscht, in ihrer jugendlichen Unschuld dachte sie jedoch, dass sich Lady Esthers Verhalten gewiss ändern würde, wenn sie erst einmal in Linnley Park lebte. Frederica sah lediglich im Umgang mit Georges Mutter ein Problem. Von Lord David sah oder hörte man oft tagelang überhaupt nichts. Er saß am liebsten in der Bibliothek und las in dicken Büchern, die nach Fredericas Meinung keinen normalen Menschen interessieren konnten. Gesellschaften wie dieses Gartenfest waren ihm regelrecht verhasst, er machte jedoch gute Miene zum bösen Spiel. Überhaupt tat Lord Linnley alles, um seine Frau friedlich zu stimmen. Frederica hatte den Eindruck, dass ihm nichts wichtiger war als seine Ruhe, dabei war er weder alt noch krank. Er hatte gerade die Fünfzig überschritten, war zwar von kleiner und schmächtiger Statur, jedoch bei