Im Schatten der Vergeltung. Rebecca Michéle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rebecca Michéle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121605
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Maureen war und blieb Maureen. Im Innern war sie noch immer das abenteuerlustige Mädchen mit den zerzausten Locken aus dem schottischen Hochland. Durch den Brief ihrer Mutter drangen nun Gefühle empor, die sie lange Zeit sorgfältig unter Verschluss gehalten hatte. Philipp hoffte nur, sie würde ihm später mitteilen, was ihre Mutter schrieb. Auf keinen Fall konnte es etwas Gutes sein.

      Nachdem Philipp gegangen war, hielt Maureen den Brief immer noch unschlüssig in der Hand. Eine unerklärliche Angst hinderte sie, den Umschlag zu öffnen. Erneut tauchte sie in die Vergangenheit ein. Es schien erst gestern gewesen zu sein, als sie sich in Philipp Trenance verliebte. Der junge Offizier, der Maureen in seiner schmucken roten Uniform wie der Märchenprinz aus ihren Träumen erschienen war, stattete dem Laird und seiner Familie einen Besuch ab und logierte zwei Wochen auf Beechgrove. Sie begegneten sich im Pferdestall, und es war Liebe auf den ersten Blick. Als Philipp nur wenige Wochen später bei Maureens Eltern um ihre Hand anhielt, war sie überglücklich. In ihrer jugendlichen Naivität dachte sie keinen Moment an die Standesunterschiede, die sie, eine schottische Magd, und ihn, einen englischen Adligen, voneinander trennten. Ihre Mutter hingegen war schockiert. Sie warf Philipp sofort aus dem Haus und verbot jeden weiteren Kontakt.

      »Niemals! Niemals wird meine Tochter einen Engländer heiraten!«, hatte sie fast schon hysterisch geschrien. »Verlasst sofort das Zimmer und wagt Euch niemals wieder in die Nähe meiner Tochter!«

      Nie zuvor hatte Maureen ihre sonst eher stille und in sich gekehrte Mutter derart aufgeregt erlebt. Als Philipp nicht sogleich die Kammer verließ, war sie einer Furie gleich auf ihn losgegangen und hatte versucht, ihn ins Gesicht zu schlagen. Maureens Vater war es nur mit größter Mühe gelungen, seine Frau zur Vernunft zu bringen, aber auch er bestand darauf, dass Philipp den Kontakt zu Maureen abbrach. Immer, wenn Maureen in den nächsten Tagen das Gespräch mit den Eltern gesucht hatte, hatte sie den großen Hass ihrer Mutter auf die Engländer aufs Neue erlebt.

      Mit der Abneigung aller Hochlandschotten gegen die Engländer und alles, was aus dem Land jenseits des Tweeds kam, war Maureen seit ihrer Geburt vertraut. Wie jedes schottische Kind hatte sie die Geschichten der Jakobiten-Aufstände und die Niederlage bei Culloden schon mit der Muttermilch eingesogen. Ihrer Mutter war es gleichgültig, dass Maureen als Kind die Zusammenhänge nicht verstand. Immer wieder hatte sie zu hören bekommen, wie ein junger, schmächtiger Mann sein sonniges Geburtsland Italien verlassen und sich in das kühle Schottland aufgemacht hatte. Angeblich war er der Sohn des rechtmäßigen Königs von England, auf dessen Thron nun ein unkultivierter Deutscher saß. Und dieser Junge, von allen Schotten noch heute zärtlich Bonnie Prince Charlie genannt, scharte Tausende von tapferen Männern um sich, mit denen er einen Siegeszug nach London startete. Nach einigen erfolgreichen Schlachten kam jedoch der schwärzeste Tag in der Geschichte Schottlands: Am 16. April 1746 kam es zu der letzten und entscheidenden Begegnung zwischen einer ausgezehrten, erschöpften Hochlandarmee, die im Moor bei Culloden auf ein weitaus größeres Heer kräftiger englischer Soldaten traf. Die Schlacht dauerte nur knapp anderthalb Stunden – neunzig Minuten, in denen etwas mehr als viertausend kaum ausgebildete Schotten mit unzureichenden Waffen und wenig Munition den britischen Truppen, bestehend aus siebzehntausend gedrillten Männern, gegenüber standen. Sechzehn Infanteriebataillone, zwölf Schwadrone Kavallerie, acht Kompanien Miliz, zehn Bataillone Artillerie. Weitere achttausend freiwillige Milizen aus den Lowlands mit Waffen, Kanonen und Munition, die gereicht hätten, halb England auszurotten, zogen siegessicher zum Culloden Moor. Die unwirtliche Gegend am Fuße des schottischen Hochlands war von den Rebellen für die letzte, alles entscheidende Schlacht um die Krone Englands gewählt worden – eine schlechte Wahl, wie der Tag zeigen sollte. Die britische Armee hatte am Ende fünfzig Tote zu beklagen, und auf jeden dieser Gefallenen kamen vierundzwanzig Rebellen. Jeder Schotte, der noch verwundet auf dem Schlachtfeld lag, wurde in den folgenden Stunden brutal niedergemetzelt, Gefangene wurden keine gemacht. Die Engländer gingen mit einer unvorstellbaren Grausamkeit zu Werke. Gleich am nächsten Tag wurden Truppen ausgesandt, um flüchtige Rebellen aufzugreifen. In den Augen der englischen Soldaten war jeder Schotte, gleichgültig, ob er sich am Aufstand beteiligt hatte oder nicht, ein Verräter. Die Männer machten auch vor Frauen und Kindern nicht halt. Binnen weniger Wochen war der weiche Boden des Hochlands vom Blut tausender Schotten getränkt.

      Die Schotten, die das Massaker überlebt hatten, wurden gezwungen, ihre Kultur zu verleugnen. Wenn jemand mit einem kleinen Stück karierten Stoffes, dem Tartan, erwischt wurde, bedeutete das seinen sicheren Tod. Die gälische Sprache wurde verboten, ebenso das Spielen des Dudelsacks und das Singen der alten melodischen Weisen. Um die Einhaltung der Sanktionen im Hochland zu überwachen, bauten die Engländer Forts und postierten überall Soldaten. Es herrschte eine gedrückte Stimmung. Die Menschen konnten einander nicht mehr trauen, niemand wusste, wer Freund und wer Feind war.

      Als Maureen älter wurde, begann sie nach und nach die Abneigung ihrer Mutter gegen die Engländer zu begreifen. Sie konnte ihre Eltern nun zwar besser verstehen, sie selbst jedoch war erst nach diesen Ereignissen geboren und lebte in einer heilen Welt. Die Beechgroves waren königstreue Schotten, die oft Besuch von Angehörigen der englischen Armee bekamen. Maureen hatte niemals schlechte Erfahrungen mit einem Engländer gemacht. Als sie Philipp Trenance kennenlernte, war es unwichtig, welcher Nationalität er angehörte. Er war der Mann, den sie liebte, den sie heiraten und mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte.

      Die Verliebten trafen sich weiterhin heimlich, dann rückte Philipps Abschied aus der Armee und seine Rückkehr nach Südengland unaufhaltsam näher. Als er Maureen bat, ihn zu begleiten, zögerte sie keinen Moment. Es blieb ihr aber nichts anderes übrig, als heimlich zu fliehen. In diesem Augenblick empfand sie ihre Flucht als romantisches Abenteuer und war überzeugt, wenn ihre Eltern erst merkten, wie glücklich sie und Philipp waren, würden sie ihre Einstellung ändern. Nach einer kurzen Station in Edinburgh heirateten Maureen und Philipp kurz vor der Grenze nach England in dem kleinen Dorf Gretna Green. Nach schottischem Recht war Maureen mit sechzehn Jahren bereits volljährig und die Eheschließung auch in England gültig.

      Maureen kehrte wieder in die Gegenwart zurück. Während sie vorhin noch gefroren hatte, war ihr jetzt unsäglich heiß. Kleine Rinnsale liefen ihr zwischen den Brüsten hinab, das elegante, leichte Seidenkleid klebte an ihrem Rücken. Wie gebannt starrte sie auf den Brief in ihren Händen. Schließlich gab sie sich einen Ruck, riss den Umschlag auf und las die wenigen Worte:

      Maureen ...

      Sie schluckte. Da stand einfach nur ihr Name, nicht etwa Liebe Maureen oder Meine Tochter. Offenbar hatte ihr die Mutter auch nach den vielen Jahren nicht verziehen. Sie las weiter:

      Ich sehe es als meine Pflicht an, Dir mitzuteilen, dass Dein Vater im Sterben liegt. Ich hoffe, Du lebst noch im Süden und dieser Brief wird Dich erreichen. Es ist der Wunsch Deines Vaters, dass Du über seinen Zustand unterrichtet wirst. Vielleicht kannst Du ihm schreiben. Er würde sich über ein paar Zeilen von Dir freuen.

      Laura Mowat

      Das war alles. Maureen stand wie erstarrt. Der Brief enthielt kein Datum. Wann war er in Edinburgh aufgegeben und wie lange unterwegs gewesen? Vielleicht war ihr Vater bereits gestorben? Tränen liefen über ihre Wangen. Sie dachte an ihren Vater und spürte einen Stich in ihrem Herzen. Während ihrer Kindheit und Jugend hatte sie immer das Gefühl gehabt, von ihrem Vater mehr als von ihrer Mutter geliebt worden zu sein. Ihre Mutter hatte ihr nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Maureen bekam genug zu essen und sie sorgte für ihre Kleidung. Es war jedoch ihr Vater gewesen, auf dessen Knien sie schaukelte und der sie in den Arm nahm und tröstete, wenn sie sich wehgetan hatte. Bei Krankheiten war ihr Vater an ihrem Bett gesessen, und ihr Vater küsste sie am Abend auf die Stirn und hatte die Decke über sie gebreitet.

      Er würde sich über ein paar Zeilen von dir freuen.

      Nach ihrer Ankunft in Cornwall hatte Maureen ihren Eltern Woche für Woche geschrieben. Unermüdlich, über viele Jahre hinweg. Selbst, als sie ihnen von Fredericas Geburt berichtete, wartete sie vergeblich auf eine Antwort. Nicht einmal ein Enkelkind hatte das harte Herz ihrer Mutter erweichen können. Schließlich schickte sie einen Brief an Lady Beechgrove, fragte nach ihren Eltern, doch auch von ihr erhielt sie keine Zeile. Irgendwann hatte Maureen aufgegeben und sich damit abgefunden, dass sich ihre Eltern von ihr losgesagt hatten. Ihr Zuhause war jetzt hier in