Ungeduldig schritt Maureen in der Eingangshalle auf und ab. Philipp missfiel Unpünktlichkeit. Selbst seiner geliebten Tochter gegenüber zeigte er sich in diesem Punkt wenig nachsichtig und sagte ihr unablässig, dass Pünktlichkeit zu den wichtigsten Tugenden gehörte, denn damit zollte man dem Wartenden Respekt. Leider waren seine Bemühungen von wenig Erfolg gekrönt. Frederica träumte und lebte gern in den Tag hinein und vergaß darüber oft ihre Pflichten.
Lautlos betrat Jenkins die Halle und sprach Maureen an: »Der Reiter brachte soeben die Post, Mylady. Soll ich die Briefe nach draußen zu Mylord bringen?«
»Nein, Jenkins, mein Mann hat jetzt keine Zeit, sich mit geschäftlichen Angelegenheiten zu befassen. Er wird die Post heute Abend durchsehen.«
Jenkins verbeugte sich und legte die Post auf eine zierliche Kommode unter einem Spiegel.
»Frederica! Kommst du endlich?«, rief Maureen nach oben, ohne eine Antwort zu erhalten. Im Spiegel erhaschte sie einen Blick auf ihre Gestalt und lächelte ihrem Spiegelbild zu. Sie zupfte ein paar Locken zurecht, die unter dem cremefarbenen Hut hervorlugten. Die grünen Bänder passten perfekt zu ihren Augen. Nein, wie dreiunddreißig sehe ich nicht aus, stellte Maureen befriedigt fest. In den Augenwinkeln zeigte sich noch kein Fältchen, und ihre Figur war immer noch schlank und an den richtigen Stellen gerundet. Um sich die Wartezeit, bis Frederica endlich wieder herunterkam, zu vertreiben, blätterte sie ohne großes Interesse die Post durch. Plötzlich blieb ihr Blick blieb an einem schlichten weißen Kuvert hängen. Sie schnappte nach Luft, und es war, als hätte ihr jemand eine Faust in den Magen gerammt.
Maureen Trenance, Trenance Cove, Cornwall, England stand in gerader, schnörkelloser Schrift auf dem Umschlag. Maureen schien es, als stünde sie plötzlich neben sich, als hätte sich ihre Seele von ihrem Körper gelöst und sie beobachtete sich selbst, wie ihre Hand den Brief umklammerte. Vor ihren Augen wurden die Buchstaben immer größer, brannten sich in ihren Kopf wie glühendes Eisen, bis Maureen nichts anderes um sich herum mehr wahrnahm als diesen Brief. Sie kannte diese Schrift, hatte sie oft genug gesehen, auch wenn viele Jahre seit dem letzten Mal vergangen waren. Wie eine Marionette stieg sie die Treppe hinauf, den Umschlag in ihren verkrampften Fingern. Auf dem ersten Absatz begegnete sie Frederica, die Schultern nun unter einem Tuch sittsam verborgen, aber Maureen bemerkte es nicht. Mit starrem Blick ging sie einfach an ihrer Tochter vorbei.
»Mama?« Frederica erschrak über den sonderbaren Ausdruck in Maureens Augen. In einer solchen Verfassung hatte sie ihre Mutter nie zuvor gesehen. »Fühlst du dich nicht wohl?«
Maureen antwortete nicht. In ihrem Kopf hämmerte nur ein einziger Gedanke: Warum jetzt? Warum heute?
Erst, als sie ihre Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, war sie in der Lage, mit zitternden Fingern den Umschlag umzudrehen und einen Blick auf den Absender zu werfen, diese Bestätigung hätte es aber nicht mehr gebraucht, um zu wissen, wer ihr geschrieben hatte. Es wunderte sie nur, dass der Brief in Edinburgh aufgegeben worden war.
»Mach ihn auf!«, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Langsam wurde sie ruhiger, ihre Hände zitterten weniger. Gleichzeitig jagte ein Schauer nach dem anderen über ihren Rücken.
»Nein!«, rief eine andere, lautere Stimme. »Nicht nach all den Jahren! Wirf ihn ins Feuer!«
Der warme Sommertag, an dem die Sonne durchs Fenster schien und helle Kringel auf dem kostbaren Teppich malte, schien zu verschwinden und Maureen wurde in die Vergangenheit katapultiert. Die Erinnerungen überwältigten sie und sie sank zu Boden, den Brief immer noch ungeöffnet in den Händen. Sie fühlte sich wie in ein anderes Land in eine andere Zeit versetzt, weit fort von der ländlichen, sommerwarmen Idylle Cornwalls. Es war Winter und, als wäre sie eine stumme Beobachterin, sah sie ein junges Mädchen, das vor Kälte bibberte und versuchte, sich mit einer fadenscheinigen Decke notdürftig zu wärmen. Dieses Mädchen war sie, vor vielen, vielen Jahren. Sie hatte die meiste Zeit des Jahres gefroren, denn selbst die Sommer in Schottland waren kurz und regnerisch. Es war Maureen, als könne sie den groben Stoff der Wolldecke auf ihren Schultern spüren. Durch die Ritzen der Bodenbretter, auf denen sie kauerte, hörte sie das Schnauben der Pferde, roch den unverwechselbaren Duft nach Heu, den sie liebte und der sie seit ihrer Geburt umgab. Roslach wieherte leise und stampfte mit ihren kleinen Hufen. Maureen liebte die Fuchsstute. Sie hatte mithelfen dürfen, als Roslach geboren wurde und hatte das junge Pferd geduldig und mit viel Geschick zugeritten. Nun würde die Stute jedoch verkauft werden. Die Vorstellung, sich von Roslach zu trennen, schmerzte Maureen, sie konnte jedoch nichts daran ändern. Das Pferd gehörte dem Laird, der damit machen konnte, was er wollte. Maureens winzige Kammer über den Stallungen war nicht mehr als ein Bretterverschlag, wie auch der danebenliegende Raum, in dem ihre Eltern ihr Lager hatten. Jetzt im Winter, wenn die Landschaft tief verschneit und die Bäche gefroren waren, hatte das einen großen Vorteil: Die Wärme der Tiere stieg nach oben, und machte die Kälte etwas erträglicher, denn die Kammern verfügten über keine Feuerstellen. Die Menschen hier im Glen Livet waren oft wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten, denn der Schnee lag hoch in den Highlands. Auf Beechgrove war für die Wintermonate gut vorgesorgt worden. Die Ernte war in diesem Jahr reichlich ausgefallen und die Lagerräume bis zum Rand gefüllt, so musste niemand Hunger leiden.
Maureen mochte ihr Leben im Hochland. Bisher hatte sie das enge Tal noch nie verlassen, einzig zum Markt nach Tomintoul durfte sie ihre Eltern manchmal begleiten. Ihr Vater war einer der Kutscher des Lairds, ihre Mutter arbeitete in der Küche und sie selbst machte sich nützlich, wo es gerade notwendig war. Sie reinigte die Kamine, putzte Gemüse und schrubbte die großen, schweren Pfannen und Töpfe. Am liebsten war sie jedoch im Stall und war glücklich, wenn ihr erlaubt wurde, sich um die Pferde zu kümmern. Der Laird war ein strenger, aber gerechter Herr, und erst kürzlich war Maureen bewusst geworden, dass sie und ihre Eltern als Sklaven des Lairds arbeiteten. Sie erhielten zwar einen geringen Lohn für ihre Tätigkeit, der Familie war es aber nicht erlaubt, ohne Erlaubnis des Lairds Beechgrove zu verlassen, um sich woanders Arbeit zu suchen. Warum hätten sie das auch tun sollen? Sie hatten ausreichend zu essen und ein Dach über dem Kopf. Das war mehr als viele andere Schotten hatten, wie ihre Eltern regelmäßig betonten.
Lady Beechgrove war eine freundliche Frau mit einem weichen Herz. Mit geschultem Blick hatte sie Maureens wachen Verstand erkannt und hatte den Mowats ein großzügiges Angebot gemacht: Wenn Maureen ihren Pflichten im Herrenhaus gewissenhaft nachkam, durfte sie einmal in der Woche zusammen am Unterricht ihrer Töchter teilnehmen. Diese vier Stunden jeden Freitagvormittag wurden für Maureen das Wichtigste in ihrer kleinen Welt. Ihre Eltern konnten lesen und schreiben, was in der Unterschicht keinesfalls üblich war, denn öffentliche Schulen gab es keine. Zumindest nicht für die Schotten. Der junge Reverend, der die drei Mädchen unterrichtete, war ein liebenswürdiger Mann, der es anschaulich verstand, seinen Schülerinnen sein Wissen zu vermitteln. Er hatte mit der Zeit eine besondere Vorliebe für Maureen entwickelt, denn sie sog den Stoff wie ein Schwamm in sich auf, ganz im Gegensatz zu den zwei Beechgrove-Töchtern, für die der Unterricht eine lästige Pflicht war. Maureen war nicht unglücklich, dass eine nähere Bekanntschaft, die über die gemeinsamen Unterrichtsstunden hinausgingen, wegen ihrer unterschiedlichen Herkunft ausgeschlossen war. Obwohl sie fast im selben Alter waren, konnte Maureen nur wenig mit den verwöhnten und wehleidigen Mädchen anfangen, denen Geschichte, Mathematik und sonstige Bildung herzlich gleichgültig waren. Gegenüber Lady Beechgrove empfand Maureen eine tiefe Hochachtung. Die Dame war höflich und zuvorkommend, eine wahre Lady eben. Manchmal lag Maureen des Nachts wach, hörte unter sich das Stampfen der Hufe und dachte sich fantastische Geschichten aus. Eine ihrer liebsten verlief so: Eines Tages stellte sich durch einen Zufall heraus, dass sie in Wahrheit ebenfalls eine Tochter von Lady Beechgrove war. Umgehend zog sie aus der kleinen Kammer in eines der eleganten Zimmer im Herrenhaus, bekam kostbare und schöne Kleider und lebte fortan wie eine kleine Prinzessin ...
Schlagartig wurde Maureen in die Gegenwart zurückgeschleudert, als sich eine Hand schwer auf ihre Schulter legte. Von ihr unbemerkt hatte Philipp das Zimmer betreten. Missbilligend sah er sie an.
»Hier