Der methodische Zweifel zersetzte in einem zweihundert Jahre dauernden Prozess die biblische Botschaft und führte zur Auflösung des traditionellen Glaubensguts. Die entscheidenden Anstöße zur Weltgestaltung kamen zum ersten Mal nicht von der Kirche, sondern von der aus ihrem Machtbereich losgelösten Philosophie und Wissenschaft. Die neue Autorität war die menschliche Vernunft, die sich auf nichts berief als auf sich allein. Plötzlich war nicht mehr klar, was denn nun wahr, vernünftig und tugendhaft sei, und so fanden sich alle traditionellen Autoritäten von Aristoteles über den Papst bis hin zur Bibel „in einer Krise ihrer Legitimation“ (Küng 1999, 773). Diese Krise ist mit der anbrechenden Postmoderne nicht aufgehoben, sondern wird noch verschärft. Die Postmoderne stellt die Identitätskrise der Moderne dar, „deren Ansprüche auf eine umfassende universale Vernunftwahrheit sich nicht eingestellt haben“ (Hille 2000, 27).
Postmoderne
In der Postmoderne – ihr Anbruch ist auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts anzusetzen – zeichnet sich eine Absage an das Vernunftdenken der Aufklärung ab. Ob diese nachhaltig sein wird, bleibt abzuwarten, auf jeden Fall existiert sie parallel zu einer weiterhin starken Wissenschaftsgläubigkeit. Damit ist ein Grundzug der Postmoderne bereits angeklungen: Die unterschiedlichsten Auffassungen, Trends und Gegentrends existieren am selben Ort und zur selben Zeit. Die Postmoderne ist ein heterogenes Gefüge, in dem es für die Menschen schwierig ist, sich zu orientieren. Alles ist möglich. Vernunftdenken und radikaler Pluralismus stehen Seite an Seite. Die Absage an das reine Vernunftdenken brachte eine kritische Betrachtungsweise jeglichen universalen Wahrheitsanspruchs mit sich und besteht weiterhin. Sobald der Mensch mit seiner Vernunft das Maß aller Dinge wurde, war es nicht mehr möglich, den Wahrheitsanspruch des Evangeliums ohne weiteres aufrechtzuerhalten. Die konservativen protestantischen Kräfte versuchten vergeblich, sich gegen die heranrollende Flut zu wehren. Das liberale Aufklärungsdenken drang in alle Gesellschaftsbereiche ein. Die Kirche verlor ihre traditionelle Stellung und ist nur noch ein Player unter anderen. Der amtliche Bonus ist weg. Das bedeutet: Gesellschaftlichen Einfluss können sich die Kirchen in der Postmoderne nur noch durch Glaubwürdigkeit und Gesellschaftsrelevanz erarbeiten.
Mit den wissenschaftlichen Erfindungen der Neuzeit wie der Elektrizität oder der Dampfmaschine ging in der Moderne ein zukunftsgerichteter und fortschrittlicher Optimismus einher. Man glaubte, mit der Erforschung der physikalischen Gesetze der Natur würde es möglich sein, die Welt zu beherrschen. Dieser Optimismus existiert seit der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht mehr. Zunehmend wird deutlich, dass das rein vernünftige Denken die Probleme der Menschheit nicht lösen kann. Die Welt ist nicht, wie zu Beginn des wissenschaftlichen Aufbruchs der Moderne geglaubt, mit einem mechanischen Uhrwerk zu vergleichen, das vollständig kontrolliert werden kann. Küng (1999, 871–874) charakterisiert die Postmoderne zu Recht als eine Zeit der Erschütterung. Die moderne Verabsolutierung des Vernunftglaubens ist erschüttert. Vernunft, die keine Tradition respektiert und der nichts heilig ist, zersetzt sich selbst. Zunehmend wird klar, dass der Mensch nicht von der Vernunft allein lebt. Erschüttert ist auch die Verabsolutierung des Fortschritts. Wirtschaftlicher Fortschritt als Selbstzweck hat verheerende Folgen globalen Ausmaßes: Ressourcenknappheit, Umweltzerstörung, Finanzkrisen, erschütternde Armut.
Die Postmoderne mit ihrem Pluralismus bildet den großen gesellschaftlichen Rahmen, in dem die Kirche ihren Auftrag zu leben hat. Wie kann dieser skizziert werden?
Zunächst: Die Kirche muss durch die Verkörperung des von ihr verkündigten Heils überzeugen. Kein Weg führt daran vorbei. Fundierte Wahrheitsansprüche allein vermögen im Pluralismus der Postmoderne nicht mehr zu überzeugen. Es braucht eine Rückbesinnung auf die praktischen Aspekte des Evangeliums im Sinne des hohepriesterlichen Gebets, in welchem Jesus um die Einheit seiner Nachfolger betete (Joh 17,21). In dieser Einheit, die mit größter Anstrengung angestrebt werden muss, liegt die höchste Überzeugungskraft des Christentums, wie Schaeffer (1998, 191–192) ausführt:
Die sichtbare und tätige Liebe unter wahren Christen, welche die Welt auch heute mit recht zu sehen erwartet, sollte sich uneingeschränkt über alles Trennende hinwegsetzen (…) Wenn die Welt dies nicht beobachten kann, wird sie nicht glauben, dass Christus vom Vater gesandt wurde. Die Menschen werden nicht allein aufgrund zutreffender Antworten glauben. Das eine darf das andere nicht ausschließen. Die Welt muss auf aufrichtige Fragen zutreffende Antworten erhalten, zugleich aber muss unter allen wahren Christen einmütige Liebe herrschen. Das ist unerlässlich, wenn die Menschen wissen sollen, dass Jesus vom Vater gesandt wurde und das Christentum wahr ist.
Der Pluralismus der Postmoderne ist kein völlig neues Phänomen. Er hat seine antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Vorformen. Neu ist, dass er jetzt dominant und obligat wird (Welsch 1999, 40). Ebenfalls neu ist, „dass die postmoderne Pluralität radikaler ist als jede vorherige, so radikal nämlich, dass sie nicht mehr durch Gegenmotive aufgefangen oder überboten werden kann, sondern jetzt konsequenterweise zur Grundverfassung werden muss“ (Welsch 1999, 40). Diese radikale Pluralität verlangt nach einer überzeugenden Antwort der Kirche. Denn die radikale Pluralität brachte auch einen Verlust an traditioneller Bindung mit sich. Hatte sich das christliche Abendland einmal von den kirchlichen Dogmen befreit, befreite es sich damit auch aus einem schützenden Verständnisrahmen, durch den die Welt interpretiert werden konnte. Die Folge davon war eine Erosion ethischer Werte, die alle Bereiche der Gesellschaft erfasste und den christlich-abendländischen Konsens hinwegschwemmte. Hille (2000, 22) spricht in diesem Zusammenhang von der prämodernen Glaubensgewissheit, die durch die moderne Vernunftautonomie erodierte und zum postmodernen Wahrheitspluralismus führte. Es ist „offensichtlich, dass die Moderne sich im Fortschritt der geistesgeschichtlichen Entwicklung immer vielfältiger ausdifferenziert. Zudem lösen sich auch die unterschiedlichen Philosophien und Ideologien in immer rascheren Zeitfolgen ab. Und eben dieser Wechsel der Deutungssysteme und ihre Ablösung ist in sich eines der charakteristischen Merkmale der heraufkommenden Postmoderne“ (Hille 2000, 25).
Angesichts des postmodernen Pluralismus darf die Kirche nicht von ihrer Überzeugung weichen, dass die Heilige Schrift Norma Normans bleibt. Die Bibel als Norm für Glauben und Leben ist die Wasserscheide in einer Welt der Beliebigkeiten. Die Antwort der Kirche auf die postmoderne Beliebigkeit kann darum nicht darin bestehen, alles Anstößige aus ihrer Botschaft zu entfernen, denn damit würde sie sich selbst abschaffen. Diesen Weg haben in der Moderne liberale Theologen beschritten und sind damit gründlich gescheitert (Hille 2000, 25). Der moderne leidenschaftliche Streit um die Wahrheit ist in der Postmoderne agnostisch aufgegeben. Jeder lebt seine individuellen Wahrheiten und seine ethischen Wertsetzungen im Kontext seines Submilieus (Hille 2000, 27). Dieser Unwissenheit über vorletzte und letzte Dinge darf und muss die Kirche die Gewissheit des Glaubens entgegensetzen.
Die Kirche in der Postmoderne ist angesichts der dominant werdenden Beliebigkeit auch als ethische Institution gefordert. Nur wenn ihre Mitglieder einen glaubwürdigen, nachhaltigen und dialogbereiten Lebensstil vorweisen können, wird sie noch gehört werden. Beruft sie sich dabei auf die in der Bibel verbriefte Offenbarung Gottes, wird sie nicht nur Widerspruch hervorrufen, sondern auch ein Leuchtturm der Orientierung sein. Denn die Postmoderne bringt ja gerade die Auflösung aller überkommenen Werte mit sich. Die Tatsache, dass wir den Begriff der Postmoderne benutzen, zeigt an, dass das Ende der Moderne eingeläutet ist. Die Postmoderne an sich ist aber alles andere als eine Lösung des Problems der Moderne. Die Moderne zersetzte in einem langen Prozess traditionelle Werte und setzte an ihre Stelle die autonome Vernunft. Die Postmoderne verlängert diesen Prozess und führt ihn mit letzter Konsequenz weiter. So gesehen ist die Postmoderne eher als Spätmoderne zu bezeichnen (Küng 1999, 877). Küng fragt, ob