Steuernagel (1988, 150–156) und mit ihm die meisten Vertreter aus dem Süden hielten die Lausanner Verpflichtung für eine ausgewogene Verlautbarung. Sie waren erstmal zufrieden damit, dass ihre ganzheitliche Sicht von Mission Beachtung gefunden hatte. Anders der überwiegende Teil der Vertreter aus dem Westen. Arthur P. Johnston (1984, 319) bedauerte, dass die Bedeutung der Evangelisation aus seiner Sicht abgeschwächt wurde. Die schärfste Kritik brachte der deutsche Missionswissenschafter Peter Beyerhaus (1984, 12–13) vor, als er von einer „verräterischen Aufgeschlossenheit“ von Teilen der evangelikalen Bewegung für die kontextuelle Theologie sprach.
Die Zerrissenheit der Evangelikalen in den Jahren nach Lausanne (vgl. Hardmeier 2008, 31–57) ist ein deutliches Indiz dafür, dass sich in der evangelikalen Theologie ein Paradigmenwechsel abzeichnete. Der Westen behielt einen Teil seiner Dominanz, doch die Stimmen aus dem Süden mit ihrem Ruf nach der Ganzheitlichkeit des Evangeliums wurden immer stärker. Ein Paradigma wird nicht über Nacht geboren. Eine Zeit lang existieren das alte und das neue Paradigma nebeneinander. Vertreter des alten Paradigmas verteidigen die Richtigkeit ihrer Sichtweise, während die Proponenten des neuen Paradigmas auf Veränderung drängen. Schließlich setzt sich das neue Paradigma durch; die Errungenschaften des alten Paradigmas verschwinden nicht völlig, sondern bleiben idealerweise erhalten. Mit dem Lausanner Kongress ist ein solcher Paradigmenwechsel eingeleitet worden.
Heilsverständnis
Kern des eurozentrisch-kolonialen Paradigmas ist ein individualistisches Heilsverständnis – darin zeigt sich der Einfluss der Moderne mit seinem im Individuum verankerten Denken – und als Folge davon ein bekehrungsorientiertes Missionsverständnis. Mission ist ein geografischer Begriff und wird inhaltlich weitgehend mit Evangelisation gleichgesetzt. Heil ist in diesem Paradigma eine ausschließlich persönliche Sache. Durch den Glauben an Jesus Christus erfährt der Mensch persönliches Heil. Zentraler zu verkündigender Glaubensinhalt ist der Sühnetod von Jesus Christus und seine Auferweckung aus den Toten. Das Heil wird unter dualistischen Gesichtspunkten betrachtet: Hier die unheilvolle Welt und die damit verbundenen Trübsale, dort das jenseitige Heil in einer perfekten neuen Schöpfung.
Das anbrechende missional-ganzheitliche Paradigma betrachtet biblisches Heil unter erweiterten Gesichtspunkten. Das Heilsverständnis des alten Paradigmas wird bejaht und erweitert. Zentral ist weiterhin die Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben aufgrund der gesühnten Schuld am Kreuz. Das Heil endet jedoch nicht an diesem Punkt; es schließt verschiedene Dimensionen ein. So gibt es neben der persönlichen Dimension eine soziale, gemeinschaftliche und kosmische Dimension des Heils. Das Heilsverständnis des alten Paradigmas wird übernommen und durch neue Gesichtspunkte zu einer ganzheitlichen Sichtweise von Heil erweitert. Damit setzt sich das ganzheitliche Heilsverständnis des anbrechenden Paradigmas nicht in Widerspruch zum alten Paradigma, sondern gestaltet es inhaltlich umfassender aus. Die evangelikale Bewegung hat sich von Anfang an durch ihr Schriftverständnis und aus diesem heraus durch ihr Heilsverständnis definiert. Dies umso mehr, als diese zwei Bereiche am stärksten liberalen Anwürfen ausgesetzt waren und verteidigt werden mussten. Es liegt auf der Hand, dass die Rede von ganzheitlichem Heil geeignet ist, alte Ängste neu aufkommen zu lassen. Wir werden uns deshalb in einem separaten Kapitel der Heilsfrage stellen (Kapitel 3).
Weltbezug
Der Weltbezug des eurozentrisch-kolonialen Paradigmas durchlief verschiedene Phasen. Im 19. Jahrhundert zeichnete sich die evangelikale Theologie durch eine ausgeprägte Weltzugewandtheit aus. Für Mission und Diakonie wurden enorme Kräfte freigesetzt. Das hatte einerseits mit dem oben beschriebenen Heilsverständnis zu tun, das auf Bekehrung angelegt war und so eine brennende Motivation für Mission und Evangelisation ergab. Anderseits wurde der Fortschrittsglaube der Aufklärung übernommen. Man rechnete noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts damit, dass das Evangelium sich auf einem weltweiten Siegeszug befinde. Stattdessen brachen der theologische Liberalismus, der Darwinismus und der Säkularismus auf breiter Front durch. Der Schrecken zweier Weltkriege erschütterte den Fortschrittsoptimismus nachhaltig. Fortan verlegte sich die evangelikale Mehrheit auf den Standpunkt, die Welt sei böse und das Ende sei nur noch eine Sache kurzer Frist. Das führte zwar vereinzelt zu intensiven missionarischen Bemühungen, dämpfte aber das soziale Engagement.
Im missional-ganzheitlichen Paradigma wird eine neue Beziehung zur Welt gesucht und in der geliebten Schöpfung gefunden. Der Auftrag der Kirche wird missional, das heißt von ihrem Sendungsauftrag ausgehend, gedacht. Mission umschreibt die gesamte Aufgabe, zu der die Kirche gerufen ist, und dazu gehören nicht nur die Evangelisation und die Mission, sondern auch die Verkörperung des Heils in der Koinonia (Gemeinschaft) der Kirche und die soziale Verantwortung. Eine neue Weltzugewandtheit tritt zutage, welche die Welt nicht in erster Linie als abgefallenen Sündenpfuhl betrachtet, sondern als von Gott geliebt und darum ganzheitlichen Dienstes wert.
Ich habe in diesem Abschnitt drei Unterschiede zwischen dem eurozentrisch-kolonialen und dem anbrechenden missional-ganzheitlichen Paradigma beschrieben. Wir befinden uns in einem Paradigmenwechsel, der wie folgt zusammengefasst werden kann:
Das verbindende Element des missional-ganzheitlichen Paradigmas ist ein neuer Weltbezug. Die Kirche wird als im Dienst der Welt gesehen. Sie dient den Menschen mit dem ganzen Reichtum, der ganzen transformierenden Kraft des Evangeliums. Sie ist nicht von der Welt, aber in der Welt und für die Welt da. Ich werde diese Feststellung abschließend an je einem Beispiel aus der Mission, der sozialen Aktion und dem Gemeindebau untermauern.
Mission
Ein Beispiel für den ganzheitlichen Charakter des anbrechenden Paradigmas ist die Erklärung des Vorstandes der Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Missionen (AEM) Schweiz zur integralen Mission, die am 17. November 2006 von den Mitgliedern angenommen wurde und das Jahresthema der AEM Schweiz 2006 war. In ihr spricht der AEM Vorstand ein für die evangelikalen Missionen im deutschsprachigen Raum bisher einmalig deutliches Bekenntnis zur integralen (gleichbedeutend mit ganzheitlich)