Ein rechtlicher Grundbegriff
Gerechtigkeit ist im Alten Testament nicht nur ein sozialer Verhältnisbegriff, sondern auch ein rechtlicher Grundbegriff, der sich von Gottes Gerechtigkeit ableitet. Das zeigt sich besonders gut im sogenannten Bundesbuch (Ex 21,1–23,33), der ersten Gesetzessammlung Israels. Mose stieg auf den Sinai und Gott sagte zu ihm: „Wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören“ (Ex 19,5–6). Dann legte Gott Mose die Zehn Gebote vor, die eine Zusammenfassung des Willens Jahwes an sein Volk waren (Ex 20,1–17). Im Anschluss daran folgen im Bundesbuch einzelne Bestimmungen, welche das geistliche und soziale Leben Israels prägen sollten. Die Sammlung wird mit den Worten eingeleitet: „Das sind die Rechtsvorschriften, die du ihnen vorlegen sollst“ (Ex 21,1). Sie bestanden darin, dass die Israeliten bestimmte Dinge tun und andere lassen sollten. Damit sollten sie sich Jahwe angleichen, der ihnen den Bund gewährte, denn er ist gerecht und spricht den Schuldigen nicht frei: „Du sollst das Recht des Armen in seinem Rechtsstreit nicht beugen. Von einem unlauteren Verfahren sollst du dich fern halten. Wer unschuldig und im Recht ist, den bringt nicht um sein Leben; denn ich spreche den Schuldigen nicht frei. Du sollst dich nicht bestechen lassen; denn Bestechung macht Sehende blind und verkehrt die Sache derer, die im Recht sind“ (Ex 23,6–8).
Gerechtigkeit bestand darin, dass die Israeliten Jahwe glaubten und seine Gebote befolgten. Sie bildeten eine absolute Norm, die im Gott Israels selbst begründet war. Als ein heiliges Volk des Eigentums sollte Israel dem Heiligen Israels gleichen und seine Gerechtigkeit widerspiegeln – eine Gerechtigkeit, die sich in einer gerechten gesellschaftlichen Verfassung zeigen sollte, wie Ex 23,6–8 prägnant zum Ausdruck bringt. Entsprechend häufig, rund 30 Mal, wird im Alten Testament darum das Begriffspaar „Recht und Gerechtigkeit“ verwendet.
Der gerechte Gott
Jahwe ist die Quelle der Gerechtigkeit. Immer wieder offenbarte sich der Gott Israels als barmherziger, gnädiger und gerechter Gott. Er offenbarte sich auf dem Sinai Mose, ging an ihm vorüber und rief: „Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue: Er bewahrt Tausenden Huld, nimmt Schuld, Frevel und Sünde weg, lässt aber (den Sünder) nicht ungestraft; er verfolgt die Schuld der Väter an den Söhnen und Enkeln, an der dritten und vierten Generation“ (Ex 34,6–7). Gottes Gerechtigkeit bestand darin, dass er seinem Volk Vergebung schenkte und so sein Versprechen an Abraham, Isaak und Jakob einlöste, Israel zu seinem Volk zu machen (Lev 26,39–45). Gerechtigkeit und Gnade wurden so zuweilen zu austauschbaren Begriffen.
In den Psalmen wird Gottes Gerechtigkeit angerufen und gepriesen: „Das Wort des Herrn ist wahrhaftig, all sein Tun ist verlässlich. Er liebt Gerechtigkeit und Recht, die Erde ist erfüllt von der Huld des Herrn“ (Ps 33,4–5). Gott ist erhaben über alle Götter und steht in der Götterversammlung auf für das Recht: „Gott steht auf in der Versammlung der Götter, im Kreis der Götter hält er Gericht. Wie lange noch wollt ihr ungerecht richten und die Frevler begünstigen? Verschafft Recht den Unterdrückten und Waisen, verhelft den Gebeugten und Bedürftigen zum Recht! Befreit die Geringen und Armen, entreißt sie der Hand der Frevler!“ (Ps 82,1–4). Dieser Königspsalm preist den Gott Israels als Gott über alle Götter. Es ist sein Wesenszug, dass er Gerechtigkeit liebt und für das Recht eintritt. In gleicher Weise preist Ps 99, ein weiterer Königspsalm, Gottes gerechte Herrschaft: „Der Herr ist König: Es zittern die Völker. Er thront auf den Kerubim: Es wankt die Erde. Groß ist der Herr auf Zion, über alle Völker erhaben. Preisen sollen sie deinen großen, majestätischen Namen. Denn er ist heilig. Stark ist der König, er liebt das Recht. Du hast die Weltordnung fest begründet, hast Recht und Gerechtigkeit in Jakob geschaffen. Rühmt den Herrn, unseren Gott; werft euch am Schemel seiner Füße nieder! Denn er ist heilig“ (Ps 99,1–5). Gott ist heilig, vollkommen und gerecht. Er ist die Quelle der Gerechtigkeit und an ihm allein entscheidet sich, was recht ist und was nicht. Auch in der Weisheitsliteratur wird die Gerechtigkeit Gottes gepriesen. „Jeder meint, sein Verhalten sei richtig, doch der Herr prüft die Herzen. Gerechtigkeit üben und Recht ist dem Herrn lieber als Schlachtopfer“ (Spr 21,2–3).
So wie Gerechtigkeit ein Grundzug des Wesens Gottes ist, so ist sein Gericht über die Ungerechtigkeit ein Grundzug seines Handelns. Gott sieht die Ungerechtigkeit und schreitet dagegen ein. „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört“, steht als Grundmotiv der Barmherzigkeit am Anfang des Exodus. „Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen“ (Ex 3,7–8). Gott befreite sein Volk von der drückenden Ungerechtigkeit der ägyptischen Sklaverei und offenbarte sich als Befreier-Gott, der gegen das Unrecht einschreitet. Im Auszug aus Ägypten offenbarte Gott, dass das Heil, das er zu schenken bereit war, nicht nur mit der Erlösung von den Sünden zu tun hatte, wie die Einführung des Passa verdeutlicht, sondern auch mit Befreiung aus Unterdrückung.
Nachdem Jahwe die Israeliten befreit hatte, führte er sie in die Wüste. Im Gesetz offenbarte Gott sein heiliges Wesen und seinen heiligen Willen, der darauf ausgerichtet war, dass unter seinem Volk Gerechtigkeit herrschte. „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus“ steht als bleibende Erinnerung über den Zehn Geboten (Ex 20,2). Gottes heiliger Wille führt aus der Sklaverei und der Ungerechtigkeit in Freiheit und Gottesdienst. Jedes Jahr, wenn die Israeliten den ersten Ertrag der Ernte einbrachten, legten sie das Bekenntnis ab: „Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. Wir schrien zum Herrn, dem Gott unserer Väter, und der Herr hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis. Der Herr führte uns mit starker Hand und hoch erhobenem Arm, unter großem Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten, er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land in dem Milch und Honig fließen“ (Deut 26,6–8). Der göttliche Segen, der sich in der Ernte zeigte, erinnerte die Israeliten beständig daran, dass sie einem Gott dienten, der sie aus der Rechtlosigkeit in einen Status der Rechtssicherheit, aus der Situation drückender Arbeitslast in ein Land, dessen Früchte sie selbst genießen durften, und aus der Bedrängnis in die Freiheit als Volk Gottes geführt hatte.
Die Propheten
Eine der Hauptaufgaben der Propheten bestand in der Durchsetzung des Bundes, den Jahwe am Sinai mit seinem Volk eingegangen war. Sie riefen Israel zur Treue gegenüber dem im Gesetz verbrieften Gotteswillen auf. Es ist nicht erstaunlich, dass die vom Gesetz geforderte Gerechtigkeit ein wichtiges Thema der Botschaft der Propheten war. Israel sollte nie vergessen, dass es einem gerechten Gott diente, der sich der menschlichen Not annimmt und gegen Ungerechtigkeit einschreitet. Als Israel in der Zeit zwischen der salomonischen Herrschaft und dem babylonischen Exil selbst zum Unterdrücker wurde, fiel es unter Gottes Gericht, wie einst die Ägypter unter Gottes Gericht gefallen waren. Im Namen Jahwes traten die jüdischen Propheten auf und sagten das Gericht über die Ungerechtigkeit an:
So spricht der Herr: Wegen der drei Verbrechen, die Israel beging, wegen der vier nehme ich es nicht zurück: Weil sie den Unschuldigen für Geld verkaufen und den Armen für ein Paar Sandalen, weil sie die Kleinen in den Staub treten und das Recht der Schwachen beugen. Sohn und Vater gehen zum selben Mädchen, um meinen heiligen Namen zu entweihen. (Amos 2,6–7)
Übertragen Sie das auf den globalen Welthandel! Treten die Großen die Kleinen nicht in den Staub, wenn sie sie zu tiefsten Löhnen schuften