Kapitel 16
Aus einem mir selbst schleierhaften Grund ging mir jedoch das kleine Mädchen unter der Laterne nicht aus dem Kopf. Isabell war weder blond noch groß und sie benahm sich mit ihrem Geheule wie eine Dreijährige. Sie entsprach absolut nicht meinem Frauentyp. Sie behauptete, eine Prostituierte zu sein. Und Jungfrau. Was für ein Unsinn war das eigentlich? Hatte mich diese Göre an der Nase herumgeführt? Hatte ich mich reinlegen und mir dreihundert Dollar aus der Tasche locken lassen? War ich an eine Schauspielerin geraten, die gar nicht vorhatte, sexuelle Dienste zu verrichten? Ihre Mutter sei tot, hatte sie behauptet.
Reizte mich etwa die Vorstellung, dass ich mich hatte betrügen lassen?
Oder gefiel mir die Geschichte, die sie mir aufgetischt hatte? Die Vorstellung ihrer Jungfräulichkeit hatte durchaus einen erotischen Reiz.
Ich saß in meinem Büro im fünfundvierzigsten Stockwerk und dachte an die kleine, dunkelhaarige Frau mit der affigen Schambehaarung, anstatt mich um das ans Landziehen gewinnbringender Geschäfte zu kümmern.
Für mich stand fest, dass ich am selben Abend meinen Platz unter der Laterne aufsuchen wollte, um einen neuerlichen Anlauf zu nehmen. Heute würde ich mich zusammenreißen und meine Arbeit verrichten, so wie ich es selbst von mir erwartete. Ich schlüpfte in mein schwarzes Kleid und kroch aus dem Hohlraum. Zuvor hatte ich im Fluss gebadet und mich von Kopf bis Fuß eingeseift. In den Sommermonaten war dies selten ein Problem. Ich roch nach frischer Seife und wollte meinen Kunden zufriedenstellen. Ich war nun eine erwachsene Frau und nicht mehr das kleine Schulmädchen von damals, das dem Betreuer hilflos ausgeliefert gewesen war.
Ich träumte davon, Philosophie zu studieren. Ich wollte eine angesehene Philosophin und Publizistin werden. Ich wollte den Menschen Tatsachen berichten, von denen sie nichts wussten. Mein Wunsch war es, Missstände aufzudecken und die Menschen zu mobilisieren, etwas dagegen zu tun. Mein großes Vorbild war David Precht. Ich hatte seine Bücher aus der Schulbibliothek geliehen und konnte stundenlang über seine Ansichten nachdenken. Ich war eine Idealistin, die die Welt ein bisschen besser machen wollte.
Kapitel 17
Wo waren eigentlich meine Schuhe? Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich ohne sie auf den Weg zu machen.
Heute hielt ich den Blick nicht gesenkt. Heute stand ich aufrecht. Ich blickte offensiv auf die vorbeifahrenden Autos. Je schneller ich das erste Mal hinter mich bringen würde, umso besser. Je schneller ich Erfahrungen sammeln würde, umso routinierter konnte ich arbeiten. Außerdem hatte ich beschlossen, mehr Geld zu verlangen. Nachdem der Typ, ohne mit der Wimper zu zucken, bereit gewesen war, dreihundert Dollar zu bezahlen, konnte ich ohne Weiteres mit dem Preis nach oben gehen.
Würde ich jeden zweiten Tag einen Kunden bedienen, dann wären das in der Woche über tausend Dollar und im Monat mindestens viertausend Dollar. Wow, damit würde ich ein wahres Luxusleben führen können. Damit gingen sich alle Wünsche aus: ein Zimmer, das Geld für das Studium und darüber hinaus könnte ich mir ausreichend Nahrung und Kleidung kaufen. Augen zu und durch!
Ein Auto hielt an. Die Fensterscheibe fuhr herunter. Ich näherte mich dem Fahrer. Ein unscheinbarer Kerl mit gierigem Blick stierte mich an. »Was verlangst du?«, fragte er gerade heraus. »Vierhundert Dollar für zwei Stunden.« Innerlich bebte ich. Der Typ lachte abschätzend und schnappte durch das Fenster nach meinem Handgelenk. Ich wich zurück. »Schätzchen, für einen kurzen Fick im Auto gebe ich dir vierzig Dollar. Steig ein.«
Adrenalin schoss durch meinen Körper. Ich rannte los, ohne mich auch nur einmal umzublicken. Bis zur Fabrik blieb ich kein einziges Mal stehen. Völlig außer Atem erreichte ich das Flussufer und drehte mich nach allen Seiten um. Niemand war mir gefolgt. Gott sei Dank. Ich kroch in den Hohlraum und kauerte mich unter meine Decke.
Die Enttäuschung war riesengroß. Meine Träume platzten. Den kleinen Stoffhund fest an mich gedrückt, heulte ich mich in den Schlaf.
Als ich mir am Donnerstag eingestehen musste, dass ich das kleine Biest immer noch nicht aus meinem Kopf verdrängt hatte, fasste ich den Entschluss, sie zu suchen. Rein zufällig war ich die vergangenen Tage mehrmals an jener Stelle vorbeigekommen, an der sie gestanden hatte. Nie war sie da gewesen. Eine innerliche Unruhe überkam mich. Ich war bereits stark oversexed und underfucked. Das »Elisa Galéen« hätte sofortige Abhilfe geschaffen, aber ich verspürte keine Lust, mir eines der Mädchen zu kaufen. Wo war die kleine Isabell, die behauptete, blutige Anfängerin zu sein? Meine Typ A-Persönlichkeit verstärkte sich zusehends in ihrer Ausprägung. Ich verhielt mich aggressiv und feindselig meinen Angestellten gegenüber und in Verhandlungen mit den Geschäftsführern übernommener Unternehmen gab ich mich unnachgiebiger und fordernder als nötig. Kaufen, plündern, weg damit. Die Chemie in meinem Körper nahm eine gefährliche Potenz an. Wo zum Teufel versteckte sich diese Schlampe? Alles in mir war auf Jagd eingestellt. Nur war es eine ganz bestimmte Beute, auf die ich es abgesehen hatte.
Vierzig Dollar für einen Fick im Auto. Das war jämmerlich. Viel zu wenig für eine so abscheuliche Aufgabe. Meine neue Rechnung ergab nun zehn Männer pro Woche in zehn Autos. Kein hübsches Zimmer, kein Studium. Wie kam es, dass dieser Kerl so locker dreihundert Dollar auf den Tisch geblättert hatte? Das war wohl nicht die Realität in diesem Geschäft.
Kapitel 18
Als ich damals mein neues Zuhause bezogen hatte, konnte ich nicht wissen, dass ich neun Jahre in diesem Loch hausen würde. Neun Jahre voller Entbehrungen. Neun Jahre Verstecken spielen. Neun Jahre voller Lügen. Neun Sommer und neun Winter in einem Erdloch. Die Sommer waren leichter zu ertragen als die Wintermonate. Das Warmwasserrohr konnte den Frost nicht abhalten. Jeden Winter kroch er in die Erde und ließ meine Glieder steif werden wie die von Reptilien.
Der Mensch vollbringt unglaubliche Leistungen, um zu überleben. Ich entwickelte ein ganzes System an Strategien, um mein kleines Leben und meine Würde halbwegs aufrechtzuerhalten.
Ich war ein zehnjähriges Mädchen, das in einer Höhle lebte und keinen Cent an Geld zur Verfügung hatte. Kein Geld zu haben, bedeutete in einer kapitalistischen Welt, nicht überlebensfähig zu sein. Man verhungert, man erfriert, man stirbt an einer Krankheit, die an und für sich völlig harmlos ist. Als Zehnjährige war ich mir dieser Tragweite nicht bewusst. Ich wollte zur Schule gehen und gute Leistungen bringen. Ich wollte, dass meine Eltern im Himmel stolz auf mich waren. Ich war ein Mädchen, das täglich aus einem Erdloch kroch, um da draußen den Alltag einer ganz normalen Schülerin zu leben. Ein beinahe unmögliches Unterfangen.
Ein Schulkind braucht für seinen Alltag viele Dinge. Das wurde mir bald klar. Ich hatte meine alte Schultasche aus der Grundschule. Auf sie gab ich acht, wie auf einen Schatz. Die Bücher stellte die Schule zur Verfügung. Jedoch benötigte ich Dinge, die ich mir ohne Geld nicht kaufen konnte. Kleinigkeiten brachten mich unter Druck: ein immer kürzer werdender Bleistift. Ich suchte den Schulboden nach Tintenpatronen ab, die anderen aus der Tasche gefallen waren und meine Schrift wurde immer kleiner, um möglichst selten neue Schulhefte zu benötigen.
Dann war da das Problem mit der Kleidung. Ich wuchs. Und so wuchs ich aus meinen Sachen heraus. Wie sollte ich ohne Geld an neue Kleidung gelangen? An unterschiedlichen Stellen der Stadt waren Container aufgestellt, in denen die Leute ihre alten Kleider entsorgten. Diese Altkleidercontainer wurden einmal wöchentlich entleert. Es war nicht möglich, ins Innere der Container zu gelangen. Sie hatten ein Verschlusssystem installiert, das jede Entnahme verhinderte. Mit Altkleidung ließen sich scheinbar gute Geschäfte machen. Ich kannte mit der Zeit sämtliche Sammelstellen der Stadt und ich wusste, an welchen Tagen welche Container entleert wurden. Wenn ich Glück hatte, waren die Container kurz vor ihrer Abholung bereits so voll, dass die Menschen ihre Säcke daneben abstellten. In jenen Nächten klapperte ich alle Standorte ab und schnappte mir die frei stehenden Säcke. Außerdem hatte ich herausgefunden, in welchen Gegenden die reicheren Familien lebten und dementsprechend die besseren Kleidungsstücke zu finden waren. Mein Zuhause polsterte ich mit alten Hosen, Röcken, Pullis, Jacken und anderen