Ich hatte alles verbockt. Es war schwierig, mich auf den Beinen zu halten. Ich wollte so schnell wie möglich aus dem Hotel. Aber es ging nicht schnell und schon gar nicht geradlinig. Ich torkelte und fühlte, dass mich die Leute angafften. Warum nur hatte er meine Mutter mit in den Dreck gezogen? Wie konnte er es wagen, von ihr zu sprechen, während ich mich zum ersten Mal prostituierte? Wie konnte er es sich herausnehmen, über ihre Behaarung zu sprechen? Sie war meine über alles geliebte Mama und, verflucht noch mal, sie hatte sterben müssen und ich hatte mich nicht einmal bei ihr verabschieden können! Alles wäre anders gelaufen, wenn dieser fürchterliche Unfall nicht passiert wäre. Ich versuchte, mich an die Gesichtszüge meiner Mutter zu erinnern. Aber es war nicht möglich, ein Bild von ihr entstehen zu lassen. Ich konnte sie mir nicht mehr vorstellen. Wusste ich denn nicht mehr, wie sie ausgesehen hatte? Wie waren ihre Augen gewesen? Ihr Mund? Ihre Nase? Mama! Ich schrie zum Himmel, als ich auf die Straße lief. Ich rannte so schnell es in meinem Zustand irgendwie möglich war. Zurück in mein Zuhause, in mein elendes Loch. Die Tränen machten es mir schwer, zu sehen.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war Katharina fort. Gott sei Dank. Ich ließ mir ein Frühstück ins Zimmer bringen. Es war Sonntag und ich hatte keine Eile. Meinen Plan, im Golfclub interessante Informationen zu sammeln, gab ich kurzentschlossen auf. Katharinas Geruch haftete noch an der Bettdecke. Angeekelt stand ich auf. Ich hatte sie gefickt. Lustlos, von hinten, ohne Extrawünsche. Ich wollte ihre Fratze nicht sehen. Es war klar, dass ich Katharina nie mehr buchen würde. Sie hatte ausgedient. Der Mief nach Katharinas Sex lag in der Luft und widerte mich maximal an.
Meine Augen wanderten durchs Zimmer. Da drüben lagen Schuhe? Wessen Schuhe? Katharinas? Augenblicklich stellten sich meine Haarwurzeln auf. Ich wollte nichts von ihr in meiner Nähe wissen. Die Dinger waren an Billigkeit kaum zu überbieten. Schwarzes Plastik, das nicht einmal versuchte, als Lederimitat durchzugehen. Nein, das waren nicht die Schuhe einer Edelnutte. Außerdem waren sie für Katharina viel zu klein. Sie mussten Isabell gehören! Das Mädchen war ohne Schuhe gegangen? Eine Frau, die ihre Schuhe vergaß? Jetzt, wo ich ausschließen konnte, dass es Katharinas Krempel war, hob ich die Dinger auf und sah sie mir genauer an. Sie waren winzig und erinnerten mich an Aschenputtel. Wo erstand man solchen Ramsch? Hatte sie wirklich so wenig Geschmack? Oder Geld? Bestimmt lag ich richtig mit meiner Theorie, dass sie ein Junkie war. In der Dunkelheit der Nacht war es nicht aufgefallen, mit welch potthässlichem Plastikschnickschnack das Mädchen herumlief. Warum machte ich mir eigentlich diese Gedanken?
Nach dem Frühstück verließ ich das Hotel und irrte ziellos in der Gegend umher. Ich ertappte mich dabei, dass ich nach Isabell Ausschau hielt. Warum? Und warum hatte ich ihre Schuhe eingepackt, anstatt sie einfach in den Mülleimer zu werfen?
Der Klang ihrer Stimme tauchte in meinem Kopf auf. Die Art, wie sie sprach, war gediegen. Ihre Aussprache war ohne unangenehmen Dialekt. Sie redete so, wie die Leute in den besseren Vierteln der Stadt es taten. Wieso war sie ins Drogenmilieu abgerutscht? War sie eines der sozial verwahrlosten Wohlstandskinder, deren Eltern keine Zeit für Erziehung hatten? Dann aber hätte sie sich nicht als Strichmädchen auf der Straße verkaufen und Schuhe im ein-Dollar-Shop erstehen müssen. Das passte nicht zusammen. Außer ihr Vater hatte den Entschluss gefasst, den kleinen Junkie vor die Tür zu setzen. Konnte sie wirklich Jungfrau sein oder tischte sie mir eine Geschichte auf? War die ganze Szene am Vorabend reine Show gewesen? Die Puzzleteile passten nicht zusammen. Und vor allem: Warum beschäftigte mich das so sehr?
Ich lag den ganzen Tag an mein Warmwasserrohr gekuschelt und versuchte, den Kopf so wenig wie möglich zu bewegen. Mein Schädel brummte und wenn ich nach draußen ins helle Licht blickte, stach es wie ein Degen durch die Augen in meinen Kopf. Ich fand nicht einmal die Kraft, mir frisches Wasser zu holen, obwohl ich unerträglichen Durst verspürte. Ich war nicht krank, sondern hatte einfach viel zu viel von diesem kugeligen Zeug getrunken. In meinem Magen rumorte es und ich schwor mir, diesen Blödsinn nie mehr zu wiederholen. Außerdem war ich traurig. Wieder und wieder versuchte ich, mir die Gesichter meiner Eltern in Erinnerung zu rufen. Aber auch jetzt, wo die Wirkung des Alkohols verschwunden war, spuckte mein Gehirn kein klares Bild aus. Hatte ich wirklich vergessen, wie mein Vater und meine Mutter ausgesehen hatten? Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als ein Foto der beiden. Aber wenn es davon noch welche gab, lagen diese in einer Lade bei Tante Margot oder vielmehr unter einem der Müllhaufen in Tantes Margots Wohnung. Und dorthin wollte ich um keinen Preis zurückkehren. Ich zog mir meine Decke über den Kopf und schloss die Augen. Vielleicht konnte ich ein wenig schlafen. Schlafen half mir immer, um für kurze Zeit meine Trostlosigkeit zu vergessen. Es war Hochsommer und in wenigen Wochen würde die Universität beginnen. Wenn ich dabei sein wollte, musste ich bis dahin genug Geld gesammelt haben, um das erste Semester bezahlen zu können.
Kapitel 8
All die Jahre hindurch hatte mir Waisengeld zugestanden. Nur lebte ich offiziell bei Tante Margot und so war sie es, die Monat für Monat mein Geld einkassierte. Niemals hätte sie es herausgerückt. Wäre aufgeflogen, dass ich in Wirklichkeit gar nicht bei ihr wohnte, hätte mich die Jugendwohlfahrt schnell wieder eingefangen und zurück ins Heim gesteckt. Noch am Unfalltag meiner Eltern war ich in das Kinderheim gebracht worden. Dort hatte es nur drei Tage gedauert, bis der Betreuer mich in der Nacht zu sich geholt hatte. Wohin sonst hätte ich flüchten sollen? Außer Tante Margot gab es auf dieser Welt niemanden mehr für mich. Meine Mutter hatte sich ihrer Schwester über viele Jahre hindurch angenommen und stets versucht, sie so gut wie möglich zu unterstützen. Bereits damals war Tante Margot dem Alkohol verfallen und ich vermied es tunlichst, meine Mutter bei den Besuchen zu ihrer Schwester zu begleiten. Wenn meine Mutter von ihren Besuchen nach Hause gekommen war, hatte sie stets einen fauligen Geruch hinter sich hergezogen. Wie eklig hatte ich das immer gefunden. Tante Margot war für mich Gammelfleisch. Aber welche Wahl hatte ich nach dem Vorfall im Waisenhaus? Gar keine. Ich lief mit meiner Tasche in der Hand durch die Straßen und läutete an Tante Margots Tür, um sie um Unterschlupf zu bitten. Den Vorfall im Kinderheim erwähnte ich nicht. Warum sie mich damals aufnahm, fand ich nie heraus. Vielleicht, weil sie meinte, es ihrer Schwester schuldig zu sein? Vielleicht aber auch nur, weil sie das zusätzliche Einkommen gut gebrauchen konnte. Dass sie es für mich tat, glaubte ich niemals. Sie hatte sich mächtig zusammengerissen, um beim Besuch der Jugendwohlfahrt nüchtern und gepflegt zu erscheinen. Wie sie ihre Wohnung damals entrümpelt und auf Vordermann gebracht hatte, war mir bis heute ein Rätsel geblieben. Die Jugendbehörde betraute sie mit meiner Obsorge und ward nicht mehr gesehen. Die Tante steckte das monatliche Geld ein, um sich mit Alkohol einzudecken. In der Wohnung schimmelte es vor sich hin und die Tante wurde immer aggressiver. Sie ließ mich spüren, dass ich sie störte. Ich musste auch von hier fortgehen, hatte aber keine Ahnung, wohin. Ich war zehn Jahre alt. Meine Eltern waren tot. Ich war von Gott und der Welt alleingelassen. Als ich damals durch Zufall mein jetziges Zuhause fand, spürte ich zum ersten Mal wieder einen winzigen Funken von Glück. Das war nun neun Jahre her. Verdammt noch mal, ich hatte in diesen einsamen Jahren so vieles erreicht. Da drüben in der Ecke lag mein Abschlusszeugnis aus der Schule. Es war der Türöffner für die Universität. Ich brauchte nur noch hineinzugehen. Mit genügend Kleingeld in der Tasche. Genau das wollte ich! Unbedingt! Komm jetzt, Isabell, steh auf und kämpf weiter!
Die Arbeitswoche begann mit dem gleichen Druck und derselben Hektik, wie die vorherige aufgehört hatte. Unselbständige Handlanger, mühselige Fleh-Schreiben von Geschäftsführern, deren Unternehmen wir aufgekauft hatten und nun damit beschäftigt waren, diese auszuquetschen. Die Burschen konnten die vorgeschriebenen Gewinne nicht erzielen und hofften auf mein Verständnis. Dieses aufzubringen, war nicht meine Aufgabe. Wer sich verkaufte, spielte von da an nach den Regeln desjenigen, der gezahlt hatte. Und das war in der Arbeitswelt ich. Und in der Privatwelt ebenso. Ich war genervt.
Kapitel 9
Zu Mittag traf ich