Wir müssen uns bewusst machen, dass wir in einer gefallenen Welt leben. Menschen werden an uns schuldig. Wir werden schuldig. Unsere Kinder werden schuldig. Weil die Sünde in die Welt gekommen ist, wartet der physische Tod auf uns. An diesem biblischen Sachverhalt wird keines unserer Gebete etwas ändern (vgl. Römer 5,12). Selbst Lazarus ist schließlich gestorben, obwohl er zuvor von Gott auferweckt wurde. Gott wird uns nicht vor dem Sterben bewahren.
Und so müssen wir ehrlich zu uns sein, wenn wir um Schutz für unsere Kinder bitten. Wir müssen uns fragen, warum wir beten. Geschieht es mit der Haltung: „Gott, du bist dafür verantwortlich, dass meinem Kind nichts Böses widerfährt.“? Wenn das der Fall ist, so beten wir als Diktatoren und nicht mit Demut. Wir dürfen niemals sagen, Gott habe die Verpflichtung, unsere Kinder vor Versuchungen und Leid zu bewahren. Wir müssen unseren Kindern vielmehr erklären, dass es Versuchungen und Leid in dieser Welt gibt, und ihnen vorleben, wie man Schweres ertragen und Versuchungen widerstehen kann. Das bedeutet, dass wir uns als Eltern Gott weihen; und das können wir im persönlichen Gebet mit Fug und Recht tun.
Kann man sich selektiv auf einzelne Verheißungen fixieren und andere Teile der Bibel außen vor lassen?
Eine Frau betete für die Geburt ihres ersten Enkelkindes. Kurz nach der Entbindung starb das Baby. Die Frau, die nur für ein paar Minuten Großmutter gewesen war, erzählte anschließend nicht nur von ihrem Schmerz, sondern auch davon, wie enttäuscht sie von Gott und seinen Verheißungen war. Sie besaß eine Box mit Bibelversen und hatte diese Verheißungen in Bittgebete um Schutz, Gesundheit und Freude für das ersehnte Baby verwandelt. An sich war das eine gute Sache – bis zu dem Moment, an dem ihr das Gegenteil widerfuhr. Da verschloss sie sich für Gott. Später gestand sie ein, dass sie nur angenehme Verheißungen aus der Bibel herausgesucht hatte. Die Verse, die vom unerklärbaren Leid der Gerechten sprachen, hatte sie überblättert. Demütig bekannte sie, dass sie die vielen Stellen außer Acht gelassen hatte, die uns davon berichten, dass auch guten Menschen Schlechtes widerfährt – darunter auch Stellen, in denen es um den Verlust geliebter Menschen ging. Sie hatte ausgeblendet, dass nicht alle Menschen, die Gott nachfolgen, jederzeit den Segen der göttlichen Verheißungen erfahren.
Der spezifische Wille Gottes für jeden einzelnen Menschen wird von Gottes universalem Willen für alle Menschen regiert. Wenn wir an Jesus Christus glauben, kann das zu Verfolgung, Leid und sogar zum Tod führen.
Es ist traurig, wenn Menschen nicht auf die vielen Passagen der Bibel achten, die nicht in ihre bevorzugte Lebensgeschichte hineinpassen.
Meine Frau Sarah und ich erinnern uns noch lebhaft daran, wie meine (inzwischen verstorbene) Tante mich Anfang der Siebzigerjahre aufs Schärfste verurteilte. Ich wollte ihr Sarah vorstellen, also fuhren wir auf einen Besuch zu ihr. Ich war erst kurz davor zum Glauben gekommen und erzählte meiner Tante, die Lehrerin war, dass ich vorhatte, Pastor zu werden. Während ich ihr von meinen Plänen berichtete, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck sichtbar, und sie blickte mich geradezu verächtlich an. Ich war so irritiert, dass ich sie fragte, ob ich sie irgendwie verärgert hätte. Mit einer Feindseligkeit, die ich so an meiner Tante noch nie erlebt hatte, verurteilte sie meine Entscheidung, Pastor zu werden. Ich war von ihrer für sie ungewöhnlichen Haltung vor den Kopf gestoßen und fragte: „Warum bist du darüber so verärgert?“
Wutschnaubend antwortete sie: „Du verschwendest deinen Verstand. Du solltest Anwalt werden.“
Ich erwiderte: „Ich will kein Anwalt werden.“ Einige Sekunden saß ich ihr gegenüber, dann wurde mir klar, dass ihre Reaktion nichts damit zu tun hatte, dass ich Pastor werden wollte. Also fragte ich: „Um was geht es hier eigentlich?“
Für Sarah und mich völlig überraschend stieß sie hervor: „Als ich ein kleines Kind war, habe ich Gott um ein Fahrrad gebeten. Der Pfarrer hatte uns gesagt, dass Gott uns geben würde, worum wir ihn bitten, wenn wir ihn nur ernsthaft bitten und von Herzen glauben. Ich betete und betete und betete – aber mein Fahrrad bekam ich nie! Das war der Punkt, an dem ich entschied, dass ich niemals an Gott glauben würde.“
Obwohl das der kindischste Satz war, den ich je aus dem Mund eines Erwachsenen vernommen habe, konnte ich ihre Enttäuschung teilweise verstehen. Jedes Kind muss sich mit dem Glauben auseinandersetzen, und jeder Erwachsene damit, wie es ist, wenn wir Gott um etwas bitten. Jeder Mensch muss sich einen Reim darauf machen, was die Bibel uns über das Bitten und Empfangen sagt. Viele haben die Worte Jesu gehört: „Bittet Gott, und er wird euch geben! Sucht, und ihr werdet finden! Klopft an, und euch wird die Tür geöffnet! Denn wer bittet, der bekommt. Wer sucht, der findet. Und wer anklopft, dem wird geöffnet“ (Matthäus 7,7–8).
Hat der Mensch gewordene Jesus immer bekommen, worum er gebeten hatte?
Einen Teil der Antwort finden wir, wenn wir auch andere Teile der Schrift anschauen und in ihrem Licht die Bibelstellen interpretieren, die uns sagen, dass wir bitten dürfen und empfangen werden. Meine Tante hätte nicht aufhören sollen, in der Bibel zu lesen. Jeder Bibeltext steht in einem größeren Zusammenhang. Theologen sagen uns: „Wenn du nicht weißt, wie du eine bestimmte biblische Passage deuten sollst, lies weiter.“ Meine Tante hätte zum Beispiel die Geschichte von Jesus im Garten Gethsemane lesen sollen. Dort erfahren wir, wie er den Vater um etwas bittet und es nicht empfängt. Und wenn es irgendjemanden gab, der einen vollkommenen Glauben hatte, dann doch wohl Jesus! Leider verschloss sich meine Tante als junges Mädchen und hörte auf, in der Bibel zu lesen. Sie ließ zu, dass eine negative Erfahrung ihr lebenslang den Glauben raubte. Und hätte sie den Jakobusbrief gelesen, wo wir ermahnt werden, aus den richtigen Motiven heraus zu bitten, so hätte sie vielleicht anders gebetet.
Was das unbeantwortet gebliebene Gebet von Jesus angeht, so ist das schon erstaunlich: Jesus war vollkommen. Der vollkommene Sohn Gottes betete also drei Mal und erhielt trotzdem nicht, worum er gebeten hatte. In Matthäus 26,44 lesen wir, dass er „zum dritten Mal“ betete. Im Lukasevangelium lesen wir, worum Jesus bat: „Vater, wenn es dein Wille ist, dann lass diesen bitteren Kelch des Leidens an mir vorübergehen“ (Lukas 22,42). Wir lesen, dass er drei Mal um einen Ausweg bat, um der brutalen Kreuzigung zu entgehen. In seiner Menschlichkeit erkannte er, welche unsagbaren Schmerzen ihn erwarteten. Doch der himmlische Vater erhörte diese spezifische Bitte nicht – um des größeren Gesamtbildes willen. Und darum hören wir Jesus auch beten: „Aber nicht was ich will, sondern was du willst, soll geschehen.“ Der Wille seines Vaters entkräftete die persönliche Bitte, die Jesus in seiner Menschlichkeit an den Vater gerichtet hatte.
Auch wenn Sie nicht ans Kreuz gehen werden wie Jesus, kann es sein, dass Sie den vierfachen Willen Gottes in Ihrem Leben umsetzen, Gott im Gebet um etwas bitten und es dennoch nicht empfangen. Das bedeutet nicht, dass Sie seine Gebote nicht erfüllen oder er sich nicht an Ihrem Lebenswandel freut. Es bedeutet auch nicht, dass Gott so etwas wie ein kosmischer Spielverderber wäre, der Freude daran hat, unser Leben zu zerstören, indem er uns erst sagt, wir sollen ihm vertrauen, nur um uns dann den Boden unter den Füßen wegzureißen. Es bedeutet, dass Ihr Vater im Himmel das Gesamtbild im Blick hat und aus seiner Allwissenheit heraus handelt.
Nur wer ein Skeptiker oder ein Spötter ist, wird sagen, Gott drücke sich um sein Versprechen. Solche Menschen argumentieren gerne, das Gebet sei sinnlos, weil ohnehin geschehen werde, was nun mal geschieht. Sie behaupten, Christen beruhigen sich mit dem Irrglauben, das Unheil, das ihnen widerfahre, sei Teil von Gottes gutem Plan. In ihren Augen müsste eigentlich jeder halbwegs vernünftige Mensch einen solchen Märchenglauben ablehnen. Jeder von uns muss eine Entscheidung treffen, welcher Weltanschauung er folgen will. Ich bevorzuge die von Jesus! Jesus sagt uns, dass der Vater für uns da ist. Wir bedeuten ihm etwas, und er möchte, dass wir ihn bitten und ihm vertrauen. Der Jünger, den Jesus lieb hatte, der Apostel Johannes, schreibt in seinem ersten Brief: „Deshalb dürfen wir uns auch darauf verlassen, dass Gott unser Beten erhört, wenn wir ihn um etwas bitten, was seinem Willen entspricht. Und weil wir wissen, dass Gott all unsere Gebete hört, dürfen wir sicher sein, dass er uns gibt, worum wir ihn bitten. Es ist, als hätten wir es schon erhalten“ (1. Johannes 5,14–15).
Ich